Swiss TAG und AG TidA laden ein zum World Café am 21.10.2022 über Zoom
Die Theoriediskussionen in den Archäologien wurden nicht nur disziplinär, sondern in der Schweiz und Deutschland trotz thematischer Berührungspunkte bislang auch weitgehend unabhängig voneinander geführt. Für diesen Oktober planen wir daher ein gemeinsames digitales Event, in dem wir die Theoriediskussionen der Archäologien zusammenführen möchten. Zu dieser offenen Diskussionsrunde mit dem Titel «Konstruktiv, kritisch, kontrovers – Archäologische Denkwerkzeuge in aktuellen Diskussionen» laden die Swiss TAG und die AG TidA nun ganz herzlich ein.
Für die offene Diskussionsrunde wird das Format des World Cafés gewählt, welches sich in der Vergangenheit im Rahmen der Workshops der AG TidA bereits erfolgreich etabliert hat. Dieses bietet Theorieinteressierten, unabhängig vom akademischen Level, einen lockeren Rahmen, um aktuelle Theoriediskussionen der Archäologien aufzugreifen und diese unter neuen Aspekten zu betrachten. Dieses Format fördert über den partizipatorischen und explorativen Zugang die Diversität unseres Denkens, unserer Begriffe und unserer Konzepte und bietet eine Diskussionsplattform, die die Vernetzung der AG TidA und der Swiss TAG vorantreibt.
Unter dem Titel «Konstruktiv, kritisch, kontrovers – Archäologische Denkwerkzeuge in aktuellen Diskussionen» stehen in diesem World Café die Themen «Verflechtung und Vernetzung», «Handlung», «Digitalität», «Gender» und «Atmosphären» im Vordergrund der Diskussionen. Zusätzlich laden wir die Teilnehmer*innen dazu ein, eigene Themen auf den Tisch zu bringen.
Thema 1: Verflechtung und Vernetzung
In den letzten Jahren sind Verflechtungs- und Vernetzungsideen in verschiedenen Disziplinen, so auch in den Archäologien, en vogue. Dabei werden verschiedene Metaphern wie Assemblagen, Netzwerke, Meshwork, Mensch-Ding-Verflechtungen, Entanglement etc. verwendet. Diese werden teils sehr ähnlich, teils sehr unterschiedlich oder gar in Abgrenzung zueinander konzipiert. Einige davon sind explizit nicht anthropozentrisch bzw. posthumanistisch und berufen sich auf Konzepte wie «flache Ontologie», während andere das relationale Denken ausschliesslich auf menschliche Entitäten anwenden. In der Session «Verflechtungen und Vernetzungen» wollen wir versuchen, uns gemeinsam einen Überblick über den Begriffs-Dschungel zu verschaffen. Wir werden uns darüber austauschen, welche Begriffe uns bekannt sind, was sich die verschiedenen Teilnehmer*innen darunter vorstellen und auch was ihre jeweiligen Stärken oder Schwächen für zukünftige Forschungen sind.
Moderation: Raphael Berger
Einführende Literatur:
P. Stockhammer, Mensch-Ding-Verflechtungen aus ur- und frühgeschichtlicher Perspektive. In: K. P. Hofmann / T. Meier / D. Mölders / S. Schreiber (Hrsg.), Massendinghaltung in der Archäologie. Der material turn und die Ur- und Frühgeschichte (Leiden 2016) 331–342.
Y. Hamilakis / A. M. Jones, Archaeology and Assemblage. Cambridge Arch. Journal 27,1, 2017, 77–84.
Vertiefungstext zu flachen Ontologien:
C. Witmore, Symmetrical Archaeology. In: C. Smith (Hrsg.), Encyclopedia of Global Archaeology (Cham 2019) 1–15.
Thema 2: Handlung
«Handeln» bildet eine Grundlage des menschlichen (Zusammen)Lebens, durch dessen Fluss sich alles Weitere ergibt. Dennoch wird in vielen archäologischen Theorien «Handlung» nicht explizit konzeptualisiert. Stattdessen wird implizit davon ausgegangen, dass Handeln grundsätzlich teleologisch, rational und normativ orientiert ist und individuell oder kollektiv erfolgen kann. Auch in den meisten Philosophien sowie in sozial- und kulturwissenschaftlichen Handlungs- und Praxistheorien wird Handlung nicht als beliebig oder zufällig erfolgend, sondern als sinnorientiert und zielgerichtet ablaufend konzeptualisiert. Das gilt für die meisten Handlungskonzepte, die in den vergangenen Dekaden auch in die Archäologie Eingang fanden, wie etwa Theorien zu «sozialer Praxis» und «agency». Inwiefern sind solche Handlungskonzepte tragfähig und erkenntnisbringend? Und wie können wir Handlung in der Archäologie heute konzeptualisieren, wenn wir neuere theoretische Debatten, wie etwa jene des Posthumanismus, der Materialitäts- und Verkörperungstheorien berücksichtigen? Wie verändert sich dabei unser Verständnis von zentralen Aspekte des Handelns, wie etwa von Intentionalität, Kreativität und Ethik? Gemeinsam werden wir dieses spannende theoretische Feld erkunden. Ausgangspunkte bilden dabei unsere eigenen Handlungserfahrungen, wobei uns die Besprechung grundlegender Begriffe als Orientierungshilfe dient und weiterführende Texte uns zu neuen Horizonten führen.
Moderation: Caroline Heitz
Einführende Literatur:
S. Hirschauer, Verhalten, Handeln, Interagieren. Zu den mikrosoziologischen Grundlagen der Praxistheorie. In: H. Schäfer (Hrsg.), Praxistheorie. Ein soziologisches Forschungsprogramm (Bielefeld 2016) 45–67.
Vertiefende Literatur zu Intentionalität:
H. Joas, Die Kreativität des Handelns. (Frankfurt a. M. 1996) 218–290 (Kapitel 3: Situation – Körperlichkeit – Sozialität. Grundzüge einer Theorie der Kreativität des Handelns).
A. Ribeiro, Kapitel 7/8: The tyranny of ontology/A guide to intentionality for archaeologists. In: A. Ribeiro, Archaeology and Intentionality. Understanding Ethics and Freedom in Past and Present Societies (London, New York 2022) 122–156.
Thema 3: Digitalität
Zwar scheint Digitalität unsere Arbeit in Gegenwart und Zukunft immer stärker zu prägen und insbesondere den Methodenapparat zu verändern. Was aber damit eigentlich gemeint ist und welche wissenschaftlichen Folgen und Effekte damit einhergehen, ist noch weitgehend untertheoretisiert. So steht zu erwarten, dass künftig Datenerhebungen, Auswertungen, ja wissenschaftliche Texterzeugungen durch neue digitale Akteure durchgeführt, verändert oder zumindest stark beeinflusst werden. Zugleich fallen Ergebnisse immer singularisierter und granularer aus als bisherige durchschnittsbasierte Erkenntnisse. Welche erkenntnistheoretischen oder ontologischen Vorentscheidungen dafür aber getroffen werden und ob diese technisch-rationalen, interessensgesteuerten, ethischen oder pragmatischen Begründungen folgen, ob sich so nicht auch unser Verständnis des Untersuchungsgegenstandes ändert, all das gilt es theoretisch zu reflektieren. Wenn bisherige Vergangenheits(re)konstruktionen stark an bürgerliche Ideale des 19./20. Jh. angelehnt waren, wie verhalten sich dann heutige und zukünftige Vergangenheiten, die in digital(isiert)en Lebenswelten entworfen werden?
Moderation: Stefan Schreiber
Einführende Literatur:
C. Morgan, Current Digital Archaeology. Annual Review of Anthropology 51, 2022, 213–231.
Vertiefungslektüre:
C. Kucklick, Die granulare Gesellschaft: Wie das Digitale unsere Wirklichkeit auflöst: Auf dem Weg in das Zeitalter der Ungleichheit (Berlin 2014) (Kap. 1 Einleitung).
C. Morgan, Avatars, Monsters, and Machines: A Cyborg Archaeology. European Journal of Arch. 22, 3, 2019, 324–337.
W. Caraher, Slow Archaeology, Punk Archaeology, and the ‘Archaeology of Care’. European Journal of Arch. 22, 3, 2019, 372–385.
Thema 4: Gender
Genderforschung hat seit einiger Zeit scheinbar Konjunktur in den archäologischen Fächern. Dies legen zumindest vermehrte Studien zu Frauen und anderen Geschlechtern, die Verwendung von Genderformen im Text und das Interesse an einer «anderen» Perspektive in der jüngeren Forschung nahe. Doch sind wir tatsächlich schon angekommen in einer gleichberechtigten Archäologie? Sind Studien zu Gender und Transgender* tatsächlich aus ihrer einstigen Nische herausgetreten und bilden einen vollständig integrierten Teil archäologischer Forschung? Denken wir die Antike tatsächlich in mehr als nur binären Kategorien? Bieten feministische Perspektiven tatsächlich die gleichen Karrierechancen in einer Unikarriere? Oder sind wir nicht doch weiterhin dem «malestream» verhaftet? In dieser Session setzen wir uns kritisch mit Fragen zu Genderzuschreibungen, Stereotypen, geschlechter-spezifischer Nutzung von Raum, Rollenzuweisungen, Transgenderarchäologie, female agency und unserer eigenen Rolle als Forscher*innen auseinander. Gender ist dabei nicht als eine alleinstehende Kategorie, sondern als Prozess/Performanz zu verstehen, welche mit anderen sozialen, identitäts-formenden Kategorien analysiert werden muss. Gemeinsam erkunden wir den Methodenpluralismus der Genderforschung in den Archäologien und beleuchten die neuen Sichtweisen, die diese Perspektiven auf die archäologische Forschung bietet. Zudem reflektieren wir die Zugänge und Grenzen der Archäologien in Bezug auf Geschlechterrollen in der Antike.
Moderation: Sabine Neumann
Einführende Literatur:
L. Coltofean-Arizancu / B. Gaydarska / U. Matić (Hrsg.), Gender Stereotypes in Archaeology. A short reflection in image and text (Leiden 2021).
K. P. Hofmann, Geschlechterforschung. In: D. Mölders / S. Wolfram (Hrsg.), Schlüsselbegriffe der Prähistorischen Archäologie. Tübinger Archäologische Taschenbücher 11 (Münster 2014) 111–114.
S. Parks, “The Brooten Phenomenon”. Moving Women from the Margins in Second-Temple and New Testament Scholarship, The Bible & Critical Theory 15, 1, 2019, 46–64
Thema 5: Atmosphären Mit dem Spatial Turn wurde in den Sozial- und Kulturwissenschaften, aber auch der Stadt- und Religionsforschung sowie der Kunstgeschichte das Konzept der «Atmosphäre» für die Beschreibung des Raums und seiner nicht physikalischen Eigenschaften, wie beispielsweise der Fähigkeit Stimmung zu erzeugen, eingeführt (vgl. Gernot Böhme). Als unpersönliche, materialisierte Emotionen, Stimmungen, Affekte oder Auren bieten Atmosphären damit einen Zugang, der sich auch in den Archäologien für die Analyse räumlicher Arrangements eignet. Dabei wird die Körperlichkeit und die Lagebeziehungen der Umwelt und ihre unterschiedlichen Affizierungen mit der Vielzahl individueller und kultureller Wahrnehmungsschemata zusammengedacht. Wir möchten diskutieren, inwieweit das Konzept in den Archäologien tragfähig ist, und welche Möglichkeiten es bietet, aber auch wo wir Archäolog*innen an Grenzen stoßen. Steckt im Atmosphären-Konzept ein holistischer Ansatz, der quantitative Daten zum Befund und den Funden mit qualitativen Daten zur Wahrnehmung, den Emotionsräumen u. ä. ergänzt? Oder verbirgt sich womöglich ein Umweltdeterminismus darin, der eher die Forschungen in die falsche Richtung lenken könnte? Da Atmosphären auch bewusst erzeugt werden können, greifen wir hierdurch kulturell wahrnehmbare Schemata, die offen für Manipulation und ideologischer Einflussnahme sind? Können wir darüber sowohl Einflussfaktoren auf jeweilige Handlungs- und Praxisbündel sowie Emotionsräume erkennen?
Moderation: Asuman Lätzer-Lasar
Einführende Literatur:
S. Runkel, Zur Genealogie des Atmosphären-Begriffs. Eine kritische Würdigung der Ansätze von Hermann Schmitz und Gernot Böhme. In U. Wünsch (Hrsg.), Atmosphären des Populären II. Perspektiven, Projekte, Protokolle, Performances, Personen, Posen- Beiträge zur Erkundung medienästhetischer Phänomene (Berlin 2016) 3–22.
M. Radermacher, “Atmosphäre“: Zum Potenzial eines Konzepts für die Religionswissenschaft. Ein Forschungsüberblick. Zeitschr. für Religionswissenschaft 2018, 26, 1, 142–194.
G. Böhme, Atmospheric Architectures. The Aesthetics of Felt Spaces (London, New York 2017) 81–96 (Chap. 5, The Presence of Living Bodies in Space).
Interessierte können sich per E-Mail bei swiss-tag@outlook.com bis zum 7.10.2022 anmelden und erhalten dann Zugang zum Zoomlink, der thematisch einführenden Literatur und später zu den Zusammenfassungen der Diskussionsrunden.
Organisation: Raphael Berger, Caroline Heitz, Martin Hinz, Marco Hostettler, Sophia Joray, Asuman Lätzer-Lasar, Andrew Lawrence, Kaan Memik, Sabine Neumann, Martin Renger, Stefan Schreiber, Corinne Stäheli