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Programm zur Tagung „Massendinghaltung in der Archäologie“

Massendinghaltung in der Archäologie.
Der material turn und die Ur- und
Frühgeschichte

Tagung der Arbeitsgemeinschaft Theorien in der Archäologie e.V. (AG TidA)

Organisation: Kerstin P. Hofmann, Thomas Meier, Doreen Mölders und
Stefan Schreiber

23. – 25. Mai 2013 Berlin, Topoi Building Dahlem, Hittorfstr. 18, 14195 Berlin

Die Archäologie gehört zu den wenigen Wissenschaften, die sich seit ihrer Herausbildung als akademische Disziplin stets um die Akzeptanz von Objekten als Ausdruck kulturellen Wissens bemühen. Sie sollte daher den meisten kulturwissenschaftlichen Disziplinen im analytischen Umgang mit den Dingen einige Schritte voraus sein. Im Zuge des material turn und der Ausweitung des Forschungsinteresses anderer Kulturwissenschaften auf die
Materielle Kultur bietet sich der Archäologie erstmals die Möglichkeit, die gewonnenen Erfahrungen mit den Dingen, ihrem Eigensinn und ihrer Tücke interdisziplinär zu diskutieren und gleichzeitig die fachinternen Praktiken aus einer anderen Perspektive kritisch zu hinterfragen.
Wir wollen mit der Tagung „Massendinghaltung in der Archäologie. Der material turn und die Ur- und Frühgeschichte“ diese Gelegenheit nutzen, um das gegenwärtig vielbeschworene Interesse an den Dingen in den archäologischen Blick zu nehmen. Darüber hinaus haben wir Expertinnen anderer Wissenschaften gebeten, von einem jeweils spezifischen Standpunkt aus auf die Dinge und deren archäologische Handhabung zu schauen.
Das Programm wird von Referentinnen und Referenten verschiedener Disziplinen gestaltet. Dabei werden in 17 Redebeiträgen die Facetten von Materialität beleuchtet, die Beziehungen zwischen Menschen und Dingen aufgedeckt und Sammlungen zu Besonderen Orten von Dingen erklärt.

Wir laden alle Interessenten dazu ein, an der Tagung teilzunehmen und mit uns zu diskutieren. Außerdem nehmen wir bis zum 2. Mai gern Vorschläge für Poster zum Beispiel zum Thema workplace studies an, auf denen Forschungspraktiken in Interaktion mit archäologischen Dingen oder Dinge des Arbeitsalltags gezeigt und beschrieben werden.
Weiterhin rufen wir dazu auf, in Kurzbeiträgen am Rande geliebte oder auch gehasste Dinge wissenschaftlicher Tätigkeit dem Publikum materiell vorzustellen!

In einem Rahmenprogramm werden wir am Donnerstag, den 23. Mai, 18 Uhr in Kleingruppen das Magazin im Museum Schloss Charlottenburg und am Samstag, den 25. Mai, 10 Uhr das Museum der Dinge (Eigenbetrag ca. 6 Euro/Person) besuchen. Für beide Veranstaltungen ist eine verbindliche Anmeldung unter massendinghaltung@gmx.de bis zum 30. April erforderlich.

PROGRAMM
Donnerstag, 23.05.13

9:30 Doreen Mölders (Chemnitz): Einleitung

10:00 Matthias Jung (Frankfurt/M.):  Krüge und Henkel. Ein „material turn“ in der deutschen Philosophie und Soziologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts

10:30 Kaffee

11:00 Thomas Meier (Heidelberg): Materialität – ein (un)zeitgemäßes Konzept?

11:30 Stefan Schreiber (Berlin):  Cyborgs in der Vergangenheit: Posthumanismus oder eine neue sozial(er)e Archäologie?

12:00 Philipp W. Stockhammer (Heidelberg): Mensch-Ding-Verflechtungen aus ur- und frühgeschichtlicher Perspektive

12:30 Mittagessen

13:30 Kerstin P. Hofmann (Berlin): Das Ding als historische Quelle in Revision

14:00 Manfred K. H. Eggert (Tübingen) & Stefanie Samida (Potsdam): Überlegungen zum historischen Potential des Materiellen oder Können Dinge der Vergangenheit redundant sein?

14:30 Kaffee

15:00 Hans Peter Hahn (Frankfurt/M.): Sammlungen – Besondere Orte von Dingen und ihr Eigensinn

15:30 Astrid Hackel (Berlin):  Die tourende Sammlung: Jan Lauwers und Needcompanys Performance Isabellas Zimmer als Gegenentwurf zur Institutionalisierung der Dinge

16:00 Dominik Collet (Heidelberg): Dinge als „disciplinary objects“. Frühe universitäre Sammlungen und die Naturalisierung neuer Wissensfelder

16:30 Diskussion

17:00 Abfahrt in Richtung Schloss Charlottenburg

18:00 Besuch des Magazins im Museum Schloss Charlottenburg
(Anmeldung erforderlich!)

20:00 Möglichkeit zum gemeinsamen Abendessen in der Trattoria Opera Italiana, Spandauer Damm 5, 14059 Berlin

Freitag, 24.05.13

9:30 Susanne Grunwald (Berlin): „Riskante Zwischenschritte“. Archäologische Kartographie in Deutschland um 1900

10:00 Katja Rösler (Maintal): Mit den Dingen rechnen: „Kulturen“-Forschung und ihr Geselle Computer

10:30 Kaffee

11:00 Arnica Keßeler (Berlin): Affordanz oder was Dinge können!

11:30 Tatiana Ivleva (Leiden): A totality of things and objects: multifaceted British-made brooches abroad

12:00 Mittagessen

13:00 Reinhard Bernbeck (Berlin): Akkumulieren ist eine Suchtkrankheit und Archäologie ist ihr Symptom

13:30 Raimund Karl (Bangor): My preciousssss… Oder: every sherd is sacred

14:00 Kaffee

14:30 Sabine Rieckhoff (Leipzig/Regensburg): Ist das Archäologie oder kann das weg?

15:00 Abschlussdiskussion

16:00 Mitgliederversammlung der AG TidA

Samstag, 25.05.13

10:00 Besuch im Museum der Dinge mit Führung (Anmeldung
erforderlich, Eigenbeitrag ca. 6 € pro Person!)

ABSTRACTS

Matthias Jung

Krüge und Henkel. Ein „material turn“ in der deutschen Philosophie und Soziologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts

Bereits in der deutschen Philosophie und Soziologie des frühen 20. Jahrhunderts ereignete sich ein „material turn“, eine Hinwendung zu konkreten und alltäglichen Dingen, die, neben dem logischen Positivismus, Ausdruck eines wiedererstarkenden Empirismus war. Als exemplarisch für diesen Prozess sollen Texte von Ernst Bloch, Georg Simmel und Martin Heidegger diskutiert werden, die sich mit der Getränkeaufbewahrung dienenden Gefäßen beschäftigen. Das Interesse der nicht aufeinander Bezug nehmenden Theoretiker ausgerechnet an derartigen Gefäßen gründet darin, dass es sich um Gegenstände handelt, die beständig in Gebrauch sind, die sich aufgrund ihrer umfangreichen Außenfläche in besonderer Weise zu künstlerischen Gestaltungen eignen und die schließlich als dem Komplex der Konsumtion von Getränken angehörig oft in die gemeinsame soziale Praxis mehrerer Personen eingebettet sind. Ziel des Beitrags ist die Klärung der Frage, warum die an den Versuchen Blochs, Simmels und Heideggers ablesbaren Ansätze zu einer Hermeneutik materieller Kultur weitgehend versandeten, ohne eine Tradition begründen zu können, und ob eine Rückbesinnung auf ihre Konzepte, die (soweit ich sehe) keinen oder zumindest keinen unmittelbaren Einfluss auf die seinerzeit sich allmählich etablierende ur- und frühgeschichtliche Archäologie hatten, für eine Erschließung der Bedeutung von Zeugnissen materieller Kultur auch gegenwärtig noch fruchtbar sein kann.

Matthias Jung
Institut für Grundlagen der Gesellschaftswissenschaften
Goethe-Universität Frankfurt am Main
matjung@stud.uni-frankfurt.de

Thomas Meier                                                                                   Materialität – ein (un)zeitgemäßes Konzept?

Materialität als unveränderlicher, den Dingen innewohnender Kern, deren
phänomenologische Gewalt (Frers) und Präsenz (Gumbrecht), ihr (akteurtheoretischer?) Eigensinn nebst ihrer Tücke oder ihr eigenes Recht sind derzeit in den Kulturwissenschaften en vogue. Aber sind sie wirklich so neu und modisch, wie sie vorgeben zu sein, sind sie zeitgemäß? Jenseits innovatorischer Rhetorik („material turn“) greift das Konzept einer essentialistisch verstandenen Materialität – betont oder auch in wissenschaftsgeschichtlicher Unkenntnis – in meist stark vereinfachter Form Ansätze aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf, die letztlich als phänomenologisch zu bezeichnen sind. Dabei wird mancherlei übersehen: Die Wissenschaftstheorie hat sich weiterentwickelt, und was um 1900 (Husserl) oder 1920/40 (Heidegger) ohne weiteres schlüssig war, muss sich heute den erkenntnistheoretischen Debatten der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts stellen. Insbesondere hat der (radikale) Konstruktivismus einem phänomenologisch-essentialistischen Ansatz den theoretischen Boden entzogen, und jede Phänomenologie muss nun gegenüber dem Konstruktivismus nachweisen, dass sie eine essentialistische Materialität der Dinge logisch zu begründen vermag. „Flotte“ Auswege, den Konstruktivismus schlicht für überholt zu erklären (z.B. Latour, Gumbrecht) oder den Dingen gegen ein Übermaß an Idealismus zu ihrem Recht verhelfen zu wollen, bleiben argumentativ leer und scheinen darauf hinzudeuten, dass epistemologische Begründungen fehlen. Die Annahme einer apriorischen Materialität, die vom Menschen, wenn auch in kulturellen Ausformungen, erkannt werden könne, basiert letztlich auf dem Cartesischen Dualismus von Geist (res cogitans) versus Materie (res extensa), der sich wissenschaftshistorisch als kulturelle Perspektive einer genuin westeuropäischen Geistesgeschichte darstellt. Auch diese Entstehungsbedingungen des Konzepts „Materialität“ sprechen gegen die ontologische Annahme einer Materialität als kulturunabhängigem Wesenskern der Dinge.
Das Konzept „Materialität“ bedient ein positivistisches Weltbild, das in den Dingen die Basis der Erkenntnis vermutet, und dient damit der Durchsetzung eines naturwissenschaftlichen Blicks auf die Welt. Diese Perspektive, welche die Welt zum Objekt macht, ist ganz wesentlich ein diskursives Machtinstrument (Foucault) und erkenntnistheoretisches Problem der westlichen Kulturen (Groh). In der Kombination von Eurozentrismus und Anspruch auf Allgemeingültigkeit trägt es in seiner Anwendung auf fremde Kulturen kolonialistische Züge.
Das Konzept „Materialität“ scheint daher zwar an der Oberfläche eine neue, aktualistische Wende der Kulturwissenschaften zu begründen, entlarvt sich bei näherer Betrachtung aber als äußerst rückw.rtsgewandt – und zwar sowohl in erkenntnistheoretischer wie in machtstruktureller Hinsicht. Es bedient mit modisch-theoretischem Anstrich und erheblicher epistemologischer Ignoranz die positivistische Überzeugung des 19. Jahrhunderts, die Basis der Erkenntnis sei das Material, und blockiert damit eine breite erkenntnistheoretisch informierte Auseinandersetzung mit den Grundlagen der Archäologie.

Thomas Meier
Institut für Ur- und Frühgeschichte
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg
thomas.meier@zaw.uni-heidelberg.de

Stefan Schreiber                                                                                  Cyborgs in der Vergangenheit: Posthumanismus oder eine neue sozial(er)e Archäologie?

Archäologie muss sich als Institution der „Massendinghaltung“ neben Fragen der Akkumulation, Lagerung und Konservierung auch den methodologischen und ethischen Problemen einer solchen Praxis stellen. So muss auch gefragt werden, wie und unter welchen Bedingungen wir Akteur_innen der Vergangenheit in Dinge verwandeln, die wir „entrechtet“ in Käfige und Kartons verpacken und solcherart Gewalt über sie ausüben. Kürzlich prophezeite Stefan Burmeister, dass der material turn verstärkt posthumanistische Konzepte in die Archäologie einbringen werde (Burmeister 2012). Zugleich wies er darauf hin, dass der emanzipatorische Gedanke des Posthumanismus, ähnlich wie im Humanismus selbst, ein repressives Potential entfalten könnte. So fokussiert der Posthumanismus auf die Rechte von Pflanzen, Tieren, Künstlichen Intelligenzen und anderen auch hybriden Akteur_innen. Menschlichkeit tritt als Eigenschaft von Akteur_innen bzw. Aktanten in den Hintergrund, postsubjektive Formen der Handlungsfähigkeit – agency – rücken ins Zentrum. Um sich der Frage zu nähern, welchen Charakter eigentlich die durch die Archäologie untersuchten vergangenen Akteur_innen haben – seien es nun der „indian behind the artifact“ oder der „indian behind the indian“ oder aber das Artefakt selbst – wird im Vortrag Donna Haraways Konzept der Cyborg angeführt (Haraway 1991). Als Folge der Dekonstruktion der Grenzziehung zwischen Tier und Mensch, Mensch und Ding/Maschine sowie Physikalischem und Nichtphysikalischem führt sie die Cyborg als posthumanistische Akteur_in der Gegenwart ein, die sie kulturkritisch für die Schwächung und Überwindung anderer humanistischer und dualistischer Grenzen, wie der zwischen Geschlechtern und Spezies nutzen möchte. Für die Archäologie und damit für die Akteur_innen der Vergangenheit bietet sich dieses Konzept m.E. an, da nicht a priori bestimmte subalterne Gruppen, welche bislang durch die hegemoniale Stellung männlich-weiß-westlich geprägter Wissenschaft vernachlässigt wurden – so z. B. Frauen, Greise, Tiere und Dinge und auch alle hybriden „Trans-Ding-Akteur_innen“ –, ausgeblendet oder benachteiligt und als konturlose Massen gehalten und genutzt werden. Der Vortrag thematisiert die Chancen und Möglichkeiten von Cyborgs in der Vergangenheit, die Fokussierung auf das soziale, verbindende zwischen den verschiedenen Akteur_innen. Zugleich soll aber auch der Frage nachgegangen werden, ob Archäologie nicht schon immer posthumanistisch gearbeitet hat und der material turn eigentlich ein non-human turn ist und damit zur Unterdrückung des Menschen statt zur Gleichberechtigung und Emanzipierung hybrider und nicht-menschlicher Gruppen führt. Führen uns Cyborgs in der Vergangenheit zu einer posthumanistischen oder einer neuen sozial(er)en Archäologie?

Stefan Schreiber
Institut für Prähistorische Archäologie
Freie Universität Berlin
stefan.schreiber@topoi.org

Philipp W. Stockhammer

Mensch-Ding-Verflechtungen aus ur- und frühgeschichtlicher Perspektive

In den letzten Jahren wurde die Archäologie mit dem wachsenden Interesse der benachbarten Disziplinen konfrontiert, die von der Erfahrung der Archäolog(inn)en im Umgang mit materieller Kultur lernen wollten. Um diesen neuen Anforderungen auch gerecht werden zu können, müssen wir uns der methodischen Herangehensweisen und erkenntnistheoretischen Potentiale unseres Fachs im Umgang mit den Dingen bewusst werden und unsere
Analyseschritte auf eine Art und Weise definieren, die den interessierten Nachbardisziplinen die Möglichkeit zum Anschluss bietet. Aus diesem Grund ist es notwendig, den Practice Turn der Kultur- und Sozialwissenschaften auch in der Archäologie nachzuvollziehen (Stockhammer 2012) und zugleich einen neuen, eigenständigen, methodischen Ansatz zur Analyse von Mensch-Ding-Verflechtungen zu entwerfen, wie dies bereits Ian Hodder (2012) versucht hat. In meinem Vortrag möchte ich mit vier entscheidenden Themenkomplexen unsere Herangehensweise an die Dinge beleuchten, nämlich die Objekte in ihrer Materialität, in ihrem archäologischen Kontext, in ihrer räumlichen Verbreitung und in ihrer Macht und Bedeutung in Relation zum Menschen. Eine Integration und Aneignung von Aspekten der Akteur-Netzwerk-Theorie Bruno Latours in unsere Methodologie wird uns ermöglichen, noch weiterführende Einblicke in die komplexen Mensch-Ding-Verflechtungen der Vergangenheit zu gewinnen. Latour vernachlässigt allerdings das transformative Potential von Objekten, das ich als die doppelte Wandelbarkeit der Dinge definieren und dann die Wirkungsmacht dieser Wandelbarkeit auf den Menschen beim Umgang mit den Dingen herausstellen möchte.

Philipp W. Stockhammer
Institut für Ur- und Frühgeschichte
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg
philipp.stockhammer@zaw.uni-heidelberg.de

Kerstin P. Hofmann

Das Ding als historische Quelle in Revision

Durch den material turn und die Suche nach authentischer historischer Substanz kam es in den letzten Jahren zu einer Aufwertung der archäologischen Funde und Befunde gegenüber den seit den Anfängen der Geschichtswissenschaft überwiegend präferierten Schriftquellen. Die Archäologie sowie ihre Praktiken und Techniken der Massendinghaltung (Bergung, Dokumentation, Klassifikation, Archivierung, Auswertung und Präsentation von Funden) erfahren eine bis dato so nie gekannte Aufmerksamkeit. Gleichzeitig orientiert man sich in der Archäologie bei den Versuchen, den Zeugniswert materieller Hinterlassenschaften zu bestimmen, jedoch immer noch an den Altmeistern der historischen Zunft, Johann Gustav Droysen und Ernst Bernheim, und verwendet auch heute noch ihre primär für Schriftquellen entwickelte Systematik. Ziel des Vortrages soll es sein, den spezifischen Quellencharakter materialer historischer Überlieferung in Form von Dingen und die ihnen inhärenten Artikulationsformen des Vergangenen auf Grundlage der neuen Ansätze und Theorien der material culture studies zu erörtern – ohne dabei die den Dingen innewohnende Bescheidenheit durch das Pathos des Authentischen abzulösen und die Konstruktionsvorgänge der vermeintlich objektiv gegebenen, unmittelbar und wahrhaftig auf uns überkommenden historischen Dingwelten unberücksichtigt zu lassen.

Kerstin P. Hofmann
Institut für Prähistorische Archäologie
Freie Universität Berlin
kerstin.hofmann@topoi.org

Manfred K. H. Eggert & Stefanie Samida

Überlegungen zum historischen Potential des Materiellen oder Können Dinge der Vergangenheit redundant sein?

Der Vortrag sucht die Problematik der archäologisch erschlossenen und erschließbaren Überreste der Vergangenheit aus einem erkenntnis- und geschichtstheoretischen Blickwinkel zu behandeln. Pragmatische Aspekte ihrer Restaurierung, Konservierung und Lagerung werden im Einzelnen zwar nicht erörtert, bilden aber den Hintergrund unserer Ausführungen. Wir möchten den „Dingen auf die Spur“ kommen, indem wir zum einen die der Materiellen Kultur innewohnende Dimension der „Dingbedeutsamkeit“ (K.-S. Kramer) untersuchen. Hierbei haben wir es im Wesentlichen mit der „auratischen“ Sphäre von Sachgut zu tun. Es ist als Überrest aus einer mehr oder minder fernen Vergangenheit oder einem entsprechenden kulturellen Kontext als etwas „Fremdes“ in unserer Kultur präsent. Die Aura archäologisch erschlossener Überreste etwa ist ein gutes Beispiel für die Faszination, die „alte“ Dinge beim Betrachter auslösen. Das Auratische ist aufs Engste mit Einfühlung und emotionaler Hinwendung zu den materiellen Überresten der Vergangenheit verknüpft. Aus idealtypischer Sicht stellt dies gewissermaßen den Gegenpol des von uns angestrebten Ziels dar: Uns geht es um die Aussagekraft des Materiellen als Medium wissenschaftlicher Erkenntnis. Wir möchten klären, wie eine auf das Materielle gegründete Erkenntnis strukturiert ist und wo ihre Möglichkeiten und Grenzen liegen. Einer der bekanntesten und extremsten gegenwärtigen Vertreter einer um das Materielle errichteten Erkenntnistheorie ist Bruno Latour. Wir wollen daher in paradigmatischer Absicht einen kritischen Blick auf seine „Akteur Netzwerk-Theorie“ werfen. Dabei geht es uns nicht um Detailkritik. Vielmehr möchten wir die Frage beantworten, ob Dinge im sozialen Kontext tatsächlich als „Aktanten“ fungieren oder fungieren können. Über die Analyse der „Sozialität“ des Materiellen zielen wir auf eine Verknüpfung mit der oben erwähnten Hintergrundsproblematik der Restaurierung, Konservierung und Lagerung historischer Dinge. Zugleich werden wir damit auch die Frage im Untertitel beantworten.

Manfred K. H. Eggert
Institut für Ur- und Frühgeschichte und
Archäologie des Mittelalters
Eberhard-Karls-Universität Tübingen
manfred.eggert@uni-tuebingen.de

Stefanie Samida
Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam
Potsdam
samida@zzf-pdm.de

Hans Peter Hahn                                                                          

Sammlungen – Besondere Orte von Dingen und ihr Eigensinn

Obgleich das Sammeln von Dingen als eine Konstante menschlichen Handelns betrachtet werden kann, ist die Idee der Sammlung als Ort öffentlichen und repräsentativen Charakters sehr viel jünger. Hervorgegangen aus den Schatz- und Wunderkammern der Neuzeit, etabliert sich das Museum als Schnittstelle von Wissensstrukturen, politischer Selbstdarstellung medialer Fokussierung erst im 19. Jahrhundert. Allen Beteuerungen über den geistigen und repräsentativen Charakter des Museums zum Trotz ist es dieser Institution nicht gelungen, die offensichtlichen Prallelen zu dem in gleicher Zeit entstandenen Zwilling, dem Warenhaus loszuwerden. Dinge in der Sammlung sind stets mehr, als die guten Wünsche im Moment der Sammlungsentstehung es erahnen ließen. Der Telos einer Museumssammlung – erkenntnisleitend zu sein, der Artikulation von Wissen zu dienen und historische Momente „einzufrieren“ beschreibt im besten Falle einen Teil der tatsächlichen Existenzbedingungen einer Sammlung. Das Ergebnis dieser Dissonanz ist in den alltäglichen Problemen eines Kustos mit seiner Sammlung abzulesen. Eine Sammlung ist eben nicht nur ein Wissensort, sondern auch ein Problem der Konservierung und der Ordnung. Dieser Eigensinn der Dinge verlangt nach immer neuen und raffinierteren Strategien des Umgangs mit ihnen. Gerade die neuesten Entwicklungen in diesem Feld, die vollständige digitale Erfassung der Sammlungen, erscheint als ein Versprechen auf totalen Zugriff bei minimalem Aufwand. Tatsächlich jedoch bedeutet es einen Rückzug aus der widerspruchvollen Welt des Materiellen und birgt in sich die Gefahr, sich mit einem funktional definierten Set an Informationen an einen beschränkten Zugriff zu gewöhnen. Forschungsfragen werden dann nicht mehr an den Dingen selbst, sondern an die verfügbaren Daten gerichtet. Angesichts solcher Probleme versteht sich dieser Beitrag als ein Plädoyer dafür, die Komplexität und den widersprüchlichen Charakter von Objektsammlungen als eine immanente Eigenschaft zu betrachten. Probleme der Ordnung, Objektkonservierung und der angemessenen Lagerung sind nicht lästige Randerscheinungen, sondern als eine Grundeigenschaft von Dingen zu verstehen.

Hans Peter Hahn
Institut für Ethnologie
Goethe Universität Frankfurt am Main
hans.hahn@em.uni-frankfurt.de

Astrid Hackel                                                                                              

Die tourende Sammlung: Jan Lauwers und Needcompanys Performance Isabellas Zimmer als Gegenentwurf zur Institutionalisierung der Dinge

Seit Juli 2004 wird die Performance Isabellas Zimmer des niederländischen Künstlers Jan Lauwers und der von ihm mitbegründeten Needcompany weltweit erfolgreich aufgeführt. In ihrem Zentrum steht eine reale Erbschaft: Eine auf der Bühne präsentierte Auswahl einer über 5800 archäologische und ethnologische Objekte umfassenden Privatsammlung. Mit dem Tod des Vaters Félix Lauwers (1924 – 2004) hat die Sammlung ihren bisherigen Aufstellungsort und ihre einstige Bestimmung verloren. Die Erbschaft impliziert einerseits die Möglichkeit eines Neuanfangs, andererseits die Einsicht in die „Schwere“ ihres Antritts und die damit einhergehende, ethische (und logistische) Verantwortung. Erst vom Zeitpunkt der unerwarteten Erbschaft wird begreifbar, dass Félix Lauwers nicht nur Vater, sondern auch passionierter Hobbyarchäologe und Sammler war. Dass der Tote zu diesem bis dahin unhinterfragten Aspekt seines Lebens nicht mehr Rechenschaft ablegen kann, gehört zum unbefriedigend-defizitären Anteil der moralischen Erbschaft, die in der materiellen immer enthalten ist (vgl. Derrida: Marx‘ Gespenster). Was bleibt, sind die sehr heterogenen, meist aus dem Alten Ägypten und dem südlich der Sahara gelegenen Afrika stammenden Objekte, deren Geschichte(n) mit ins Grab genommen wurden. Seit dem Tod des Vaters, mit dem – historisch verspätet – aus familialer Sicht auch ein bestimmter Typus, nämlich der unschuldig passionierte Sammler, gestorben ist, werden die gesammelten Objekte nur noch schlaglichtartig live on stage sichtbar gemacht, während sie die meiste Zeit der Dunkelheit von Transportkisten und Lagerräumen ausgesetzt sind. Ihre inzwischen gut acht Jahre andauernde, nomadische Existenz im Rahmen flüchtiger Theateraufführungen lässt sich als bewusst offene, provisorische Antwort auf ein persönliches Dilemma zwischen dem Impuls des Zeigens und dem des Versteckens verstehen.
So positioniert, verweist Isabellas Zimmer exemplarisch auf die gesellschaftliche Ratlosigkeit hinsichtlich eines adäquaten Umgangs mit der exorbitant anwachsenden Zahl der zur Kunst erhobenen, dem sozialen Kreislauf für immer entzogenen Objekte aus Privatsammlungen, Museen und Depots. Der aufführungsimmanente Zirkulationsprozess forciert zum einen die reale „Gefährdung“ der weitgehend schutzlos ausgestellten Objekte, zum Anderen mobilisiert er ihre stetige Transformation durch künstlerische und soziale Praktiken, vor allem in Interaktion mit Performern und Zuschauern. Eingebettet in zeitgenössische Diskurse zur agency der Dinge aus Perspektive der material cultural studies stellt sich die Frage nach dem epistemischen und sinnlichen Zugewinn durch den (Medien-)Transfer der Sammlung von einer geschützten und geordneten Privatsphäre auf die offene, scheinbar chaotische Bühne im Kontext der Aufführung.

Astrid Hackel
Institut für deutsche Literatur
Humboldt-Universität zu Berlin
astrid.hackel@gmail.com

Dominik Collet

Dinge als „disciplinary objects“. Frühe universitäre Sammlungen und die
Naturalisierung neuer Wissensfelder

Sammlungen und Museen sind in den vergangenen zwei Jahrzehnten als Räume der Wissensproduktion wieder entdeckt worden. Der Fokus lag dabei zumeist auf strukturellen Homologien zwischen Sammlung und Labor. Darüber gerät leicht in Vergessenheit, dass Sammlungen neben der Generierung von Wissen auch zahlreiche weitere Funktionen erfüllen: Sie erlauben einen Blick auf die Theatralität von Wissen, die Konstruktion von Evidenz oder die Ressourcen wissenschaftlicher Identitätsbildung. Ihre Objekte lassen sich so als materielle Kristallisationspunkte von Denkkollektiven und Wissenskulturen untersuchen. Der Vortrag illustriert dies am Beispiel des Academischen Museums (1773-1840) der Universität Göttingen. Diese Aufklärungssammlung bildete eine zentrale „contact zone“ von Akademikern und Amateuren, Buchwissen und Dingwissen, von Wunderkammer und Forschungssammlung. Sie brachte neue Akteursgruppen, neue Evidenzprinzipien und neue Wissensfelder an die junge Reformuniversität. Mit den archäologischen, ethnologischen und kunsthistorischen Objekten kamen Forschungen an die Universität, die bisher außerhalb der akademischen Tradition praktiziert wurden. Neue Disziplinen wie die Völkerkunde, die Botanik oder die Archäologie entstanden als eigenständige Fächer in enger Verknüpfung mit der jeweiligen Sammlungen.
Die Dinge verliehen neuen Wissensfeldern eine unbestreitbare Materialität und „naturalisierten“ deren kulturelle Konstruktion. Als „disciplinary objects“ (Kirshenblatt-Gimblett) strukturierten und markierten die Exponate Wissensfelder und –praktiken. Sie wurden so selbst zu Akteuren, die den Wissensbetrieb und seine Ausdifferenzierung bis heute mitprägen. Den Sammlungen kam damit neben ihrer Funktion als Forschungsressource eine zentrale – wenn nicht die Schlüsselrolle – im Prozess der Ausdifferenzierung akademischer Felder und Fächer zu.

Dominik Collet
Heidelberg Center for the Environment
Heidelberg

Susanne Grunwald

„Riskante Zwischenschritte“. Archäologische Kartographie in Deutschland um 1900

In seiner Studie zu einer bodenkundlichen Expedition in den brasilianischen Urwald beschrieb Bruno Latour die Transformationen, denen Untersuchungsobjekte im Verlauf von Forschungsprozessen unterworfen werden (Latour 2000). Latour beobachtete die Wege der Dinge zu den Worten und Zeichen und die Konsequenzen, die solche Transformationsprozesse für den Fortgang der Forschung und das Sprechen darüber haben. Er verwies darauf, dass diese Prozesse u.a. in ihrer Ökonomie überhaupt erst die „Übersicht“ über diese Gegenstände ermöglichen. Solche Übertragungen von Fundplätzen, Befunden und Funden in Zeichensysteme sind auch für die archäologische Wissensproduktion essentielle Praktiken. Ihre Produkte wie z. B. Karten ermöglichen den Überblick über Fundverteilungen auf Ausgrabungen oder landesweit – über die räumliche Verbreitung archäologischer Dinge schlechthin.
Besonders Karten sind inzwischen „kommunikative Selbstverständlichkeiten“ (Gugerli – Orland 2002, 10) der Ur- und Frühgeschichtlichen Archäologie und sie leisten so überzeugend und machtvoll Bestandsaufnahmen ebenso wie Ergebnispräsentationen, dass darüber „ihre instrumentellen Voraussetzungen, ihre Prozeduren und Verfahrensbedingungen“ (Ebd.) kaum mehr hinterfragt werden. Sie gilt es aber zu reflektieren, denn sie sind der tradierte Rahmen, in dem archäologische Funde und Befunde zu verschiedenen Zeichen auf Karten transformiert werden, um Ordnung in die Dinge zu bringen.
Eine Möglichkeit der Annäherung an diese Entstehungsbedingungen archäologischer Karten bietet die historiographische Perspektive. Im geplanten Vortrag soll am Beispiel von Debatten aus der Anfangszeit der archäologischen Kartographie um 1900 aufgezeigt werden, was konzipiert und praktiziert wurde, bevor das Kartieren archäologischer Dinge zur Selbstverständlichkeit wurde. Der Rückblick darauf, wie Potentiale und Grenzen der archäologischen Kartographie ausgehandelt wurden, wird deren inzwischen selbstverständliche Transformationsprozesse verdeutlichen. Dadurch werden auch die „riskanten Zwischenschritte“ erkennbar (Latour 2000, 53), von denen Latour auf dem Weg vom Ding zum Zeichen sprach.

Susanne Grunwald
Lehrstuhl der Ur- und Frühgeschichte
Universität Leipzig
susgrun@rz.uni-leipzig.de

Katja Rösler

Mit den Dingen rechnen: „Kulturen“-Forschung und ihr Geselle Computer

Ziel meines Vortrags ist es, auf Grundlage wissenschaftssoziologischer und theoretischer Studien zu den Wirkungen von Technologie und Software auf die Forschenden und die Forschungen, den Umgang der prähistorischen Archäologie mit einer großen Datenmasse zu beschreiben.
Als Beispiel dienen mir die wissenschaftlichen Tätigkeiten Jens Lünings und seiner Schüler_innen. Lünings akademische Schule zeichnet sich durch die „Verarbeitung“ großer Datenmengen aus, denn ihr vorderstes Ziel ist es, chronologische Abfolgen und räumliche Ausbreitungen von neolithischen „Keramikkulturen“ (Lüning 1972) zu erkennen. Ihr Axiom ist folglich die je vollständige Repräsentation aller bis dato bekannten archäologischen Funde der gewählten zeit-räumlichen Einheit. Zur Bewältigung dieser Masse von Dingen ziehen Lünings Schüler_innen Computertechnologien heran. Diese wirken auf das wissenschaftliche Handeln, die wissenschaftliche Gemeinschaft und letztlich auf das Wissen selbst, denn sie „weben mit am Stoff, aus dem die Gesellschaft ist“ (Latour 1998, 65).
In meinem Vortrag wird deutlich werden, dass das eigentliche Artefakt lediglich eine verhältnismäßig kurze Zeit tatsächlich zugegen ist. Seine „Bearbeitung“ kommt dem Scannen gleich, es wird verrechnet und ein Wissen über es entsteht durch die Geste des Klickens auf die Buttons der Software. Dadurch muss sich die/der Forschende von einer/m Keramik Expertin/en zu einer/m Software-Expertin/en entwickeln. Gelingt ihr/ihm das nicht, so liegt der Schluss nahe, dass die Wissensproduktion allein von der Software geleistet wird, und also das Wissen, das mit hunderten oder tausenden Artefakten belegt wird, zum Beispiel den Algorithmen von Nie, Bent & Hull (1970) zu verdanken ist. Dieser Befund muss Archäologen_innen Sorge bereiten, sind doch die Prämissen einer Software für demoskopische Forschungen womöglich nicht auf archäologische Artefakte übertragbar. Ich meine jedoch, dass die Vernetzungen von Technologien, Menschen und Artefakten, von „Gesten und Know-how“ (Latour 1998, 51), eine andere Form von Wissensproduktion befeuern, die nicht nur mehr archäologische Artefakte sondern auch mehr menschliche und nichtmenschliche Agenten miteinander verbindet und folglich fehlendes Know-how ausgeglichen werden kann. Es bleibt allerdings die Frage, wie eine solche Gemeinschaft aussehen muss und wie die Wissensprodukte aus einem „Hexenkessel mit Computerchips, Organisationen, Subjektivitäten, Software, gesetzlichen Vorschriften, Routinen (…)“ (Latour 1996, 307) letztendlich zu bewerten sind.

Katja Rösler
Institut für Archäologische Wissenschaften, Frühgeschichtliche Archäologie und Archäologie des Mittelalters
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
katjaroesler@ymail.com

Arnica Keßeler

Affordanz, oder was Dinge können!

Dinge stellen einen zentralen Themenbereich in der Archäologie dar. Die Auseinandersetzung mit dem Ding erschöpft sich derzeit leider häufig im Dokumentieren der etwaigen Parameter wie Breiten- und Längenangaben, Gebrauchsspuren oder Fundverteilungen. Diese Analysebereiche die direkt mit den möglichen Nutzungen der Dinge verbunden sind, zeigen jedoch nur einen Teil der möglichen Informationen an, die uns Dinge anbieten. Eine Beschäftigung über diese Bereiche hinaus findet oft nicht statt oder wird durch geläufige Funktionszuweisungen als bekannt angenommen. Ein Grund liegt dabei womöglich darin, dass dem Ding ohne den Menschen das Handeln abgesprochen wird. Die Interaktion des Dings mit dem Menschen wird als bedeutsam hervorgehoben und der Schwerpunkt auf den „handelnden Menschen“ gerichtet. Vernachlässigt werden hierbei die Möglichkeiten, die die Dinge „anbieten“. Diese Affordanzen (Gibson 1982), die die Interaktion zwischen Mensch und Ding erst zulassen und folgend zu einer Handlung führen, wurden in der Archäologie bislang kaum bedacht. Durch diese einseitige, anthropozentrische Betrachtung der Dinge werden Aspekte und Angebote vernachlässigt, die die Dinge aufweisen.
Mit dem Prinzip der Affordanzen – dem Angebotscharakter – kann auch in der Archäologie ein neuer Blick auf die Dinge geworfen werden. Diese Betrachtungsweise stellt das Ding ins Zentrum der Untersuchungen und zeigt (materielle) Möglichkeiten auf, die in Verbindung mit dem Menschen Interaktionen zur Folge haben können. Ich plädiere in meinem Vortrag daher für eine Gleichsetzung der Interaktionsparteien Ding und Mensch um neue Erkenntnisse über deren Wechselbeziehung zu erlangen.

Arnica Keßler
Institut für Vorderasiatische Archäologie
Freie Universität Berlin
keardo@gmx.de

Tatiana Ivleva

A totality of things and objects: multifaceted British-made brooches abroad

Brooches formed part of a dress for any inhabitant of the Roman world; they served to hold two pieces of a person’s clothing together. Up to now 242 British-made brooches have beenidentified on 103 sites across Europe. Being made in Roman Britain and brought overseas for the propose of fastening the clothes, their functional aspect started to be overshadowed by other meanings attached to them by the variety of owners, users and viewers brooches have changed during their lifetime. Once the brooches reached their final owners and entered the archaeological record, they acquired the mixture of identities filled with the variety of meanings and associations.

This paper would like to contribute to the second theme of the conference by illustrating the concept of entanglement of objects and things and using as the example British-made brooches found outside the province of their manufacture. In an essence, each brooch is dual in its uniformity having the essentialised (thing-ness) and multifaceted (object-ness) margin, i.e. the boundaries of the brooches’ identities were repositioned in relation to different points of reference (i.e. different users, owners and viewers), although their core identity, as being things, was not erased within the other meanings. The presentation shows how the aspect of entanglement comes into play, when „the thing in its own right” (Hodder 2012, 2) is being an agent of and for other agents without losing its „thinghood”. In this way both thingness and object-ness neither precede nor proceed but are firmly entrenched within one another forming a totality, which provides a playground for myriad of identities to be projected.

Tatiana Ivleva
Factuly of Archaeology
Universität Leiden
tatianaivl@hotmail.com

Reinhard Bernbeck

Akkumulieren ist eine Suchtkrankheit und Archäologie ist ihr Symptom

In diesem Beitrag beschäftige ich mich mit dem Akkumulieren als einer Handlungsweise, die Kultur und Ökonomie seit der Renaissance eng aneinander bindet. Es handelt sich dabei um ein Dispositiv, welches sich durch Kolonialismus und Globalisierung weltweit ausgebreitet hat und anscheinend alternativlos dasteht. In diesem Dispositiv nimmt die Archäologie eine paradoxe Stellung ein: als eines der Hauptsymptome der Akkumulationskrankheit, und zugleich als eines der wenigen Mittel, diese Krankheit sichtbar zu machen und damit gegen sie anzugehen. Die Beispiele, die ich zur Illustration meiner These verwende, stammen aus dem neolithischen Westasien und aus der westlichen Museenwelt.

Reinhard Bernbeck
Institut für Vorderasiatische Archäologie
Freie Universität Berlin
rbernbec@zedat.fu-berlin.de

Raimund Karl

My preciousssss… Oder: every sherd is sacred

Die Vollständigkeit von Beobachtungen ist eine der unabdingbaren (epistemo-)logischen Voraussetzungen für die Möglichkeit, einen positiv beweiskräftigen Induktionsschluß durchführen zu können. Und der Glaube, dass nur Induktionsschlüsse, ausgehend von richtigen und vollständigen Beobachtungen von archäologischen Funden (und Befunden), verlässliche, d.h. letztendlich ‚wahre‘, Erkenntnisse über ur- und frühgeschichtliche Dinge (und Menschen) erzeugen können, ist in der deutschsprachigen Ur- und Frühgeschichte seit wenigstens ihrem Beginn als eigenständiges wissenschaftliches Fach programmatisch festgeschrieben.
Für Österreich schreibt zum Beispiel Moriz Hoernes an keinem geringeren Ort als der methodischen Einleitung zu seiner Habilitationsschrift, mit der er die „k.&k. (Wiener) Schule“ der Ur- und Frühgeschichte begründete, dass der „…Anfang und Fortschritt…“ in der Ur- und Frühgeschichte in „…der Beobachtung nackter Tatsachen, im Aneinanderreihen der einzelnen an sich geringfügigen Wahrnehmungen zu unerschütterlichen Erkenntnissen liegt…“ (Hoernes 1892, 43). Dafür beruft er sich auf Rudolf Virchows Ansichten zur Bedeutung der „…Hilfsmittel der Beobachtung und des Experiments…“ und Virchows Hoffnung, dass die anthropologischen Wissenschaften in Hinkunft „…auf rein induktivem Weg…“ vorwärts schreiten würden (Hoernes 1892, 70).

Dieses neopositivistische Wissenschaftsbild wird seitdem in der deutschsprachigen Ur- und Frühgeschichte völlig unreflektiert als „einzig wahre“ Art der Erzeugung archäologischen Wissens von Generation zu Generation weitergegeben; es ist zum fachlichen Dogma geworden. Aus diesen Voraussetzungen ergibt sich jedoch logisch zwingend ein ganz bestimmtes Verhältnis des Faches zu den (archäologischen) Dingen: das (archäologische) Ding ist Objekt unserer (hoffentlich) „richtigen“ Beobachtungen. Aus diesen Beobachtungen wollen wir induktiv die Wahrheit erschließen. Dazu ist die Vollständigkeit der Beobachtungen erforderlich. Es folgt zwingend: jedes archäologische Ding ist ein unendlich wertvoller Schatz, ist heilig, muss für immer aufgehoben und in nur Eingeweihten zugänglichen Repositorien aufbewahrt werden, weil jeder andere sie absichtlich oder unabsichtlich zerstören könnte. Nur so lässt sich sicherstellen, dass unsere Beobachtungen beliebig (experimentell) wiederholbar bleiben und unsere Wissenschaft nicht auf anderem als rein induktivem Weg vorwärts schreiten muss. Massendinghaltung ist also eine notwendige Folge unseres epistemologischen Ansatzes.

Raimund Karl
School of History, Welsh History and Archaeology
Prifysgol Bangor University
r.karl@bangor.ac.uk

Sabine Rieckhoff

Ist das Archäologie oder kann das weg?

Wissenschaft und Kunst lassen sich als einander überschneidende Symbolsysteme verstehen, mit denen Welten beschrieben und erzeugt werden. Es ist daher ebenso legitim wie reizvoll, die Frage des material turn und der archäologischen „Massendinghaltung“ aus einer bestimmten Sicht der Kunst zu hinterfragen, die vor rund 100 Jahren mit Marcel Duchamp’s objets trouvés begann, den Ding-Charakter des Kunstwerkes zu entdecken und symbolisch zu transformieren. Die Concept art der 1960er Jahre radikalisierte diesen Ansatz und identifizierte Dinge als Kunstwerke, deren Aussage nicht mehr autonome Objekte (Bilder, Skulpturen, Fotos, etc.) waren, sondern Form gewordene Konzepte zur Entstehung, Nutzung und Bedeutung von Dingen. Berühmt wurde Joseph Beuys‘ „Badewanne“ (1960), nachdem deren Symbolik einer übereifrigen Reinigungskraft zum Opfer gefallen war, ein Schicksal, das vor zwei Jahren auch Martin Kippenbergers Trog erlitt und die medienwirksame Frage evozierte: „Ist das Kunst oder kann das weg?“ Aber nicht nur in der Schlüsselrolle der den Alltag entnommenen Dinge, auch in Stilmitteln wie Wiederholung und Masse und nicht zuletzt im Einsatz digitaler Medien wird die Homologie zwischen Concept art und Prähistorischer Archäologie sichtbar: Auch in der Archäologie ist die Individualität des wissenschaftlich und kommerziell kostbaren Einzelobjektes oder –befundes (Beispiel „Fürstengrab“) an den Rand gedrängt worden von unansehnlichen Massen (Beispiel Großgrabung); auch hier ist an die Stelle der Ikone das Kollektiv der Dinge getreten, deren Konzepte – ihr einstiger sozialer Stellenwert – mit Hilfe quantitativer Methoden (re)konstruiert werden soll. Denn auch die Archäologie glaubt, dass das Gesetz der Serie einen Querschnitt durch Raum (Gesellschaft) und Zeit (Geschichte) ermöglicht, obwohl auch sie längst eingesehen haben müsste, dass sich Konzepte nur schwer „dingfest“ machen lassen. Aber so wie sich die Kunst immer mehr auf die Konzepte konzentrierte und dafür die Form vernachlässigte, bis sie „buchstäblich“ nur noch aus Worten bestand, so klammert sich die Archäologie an Fragen, die seit dem Historismus von den Schriftquellen diktiert werden. So wie die Concept art aus Mangel an Gestalt und Gestaltung heute quasi verhungert, so könnte auch die Archäologie aussterben, wenn sie nicht lernt, die gestalterischen (d. h. narrativen) Qualitäten ihrer Dinge zu nutzen. Wenn ihr das aber gelingt, wird sich die im Titel gestellte Frage von selbst beantworten. Allerdings könnten die Antworten je nach Kontext unterschiedlich ausfallen.

Sabine Rieckhoff
Lehrstuhl für Ur- und Frühgeschichte
Universität Leipzig
sabine.rieckhoff@online.de

Literaturverzeichnis

Burmeister, S. Nach dem Post-, Forum Kritische Archäologie 1, 2012, 45–51, URL: http://www.kritischearchaeologie.de/repositorium/fka/2012_1_07_Burmeister.pdf.

Gibson, J. Wahrnehmung und Umwelt. Der ökologische Ansatz in der visuellen Wahrnehmung (München, Wien 1982).

Gugerli, D. – Orland B. Einführung. In: Dies. (Hrsg.), Ganz normale Bilder. Historische Beiträge zur visuellen Herstellung von Selbstverständlichkeit. Interferenzen 2 (Zürich 2002) 9-16.

Haraway, D. J. A Cyborg Manifesto. Science, Technology, and Socialist-Feminism in the Late Twentieth Century. In: Donna J. Haraway (Hrsg.), Simians, Cyborgs, and Women: the Reinvention of Nature (New York 1991) 149–181.

Hoernes, M. Die Urgeschichte des Menschen nach dem heutigen Stand der Wissenschaft (Wien, Pest & Leipzig 1892).

Hodder, I. Entangled. An archaeology of the relationships between humans and things (Malden 2012).

Latour, B. Social theory and the study of computerized work sites. In: Wanda J. Orlinokowski/Geoff Walsham (Hrsg.) Information Technology and Changes in Organizational Work (London 1996) 295-307.

Latour, B. Über technische Vermittlung. Philosophie, Soziologie, Genealogie, In: Werner Rammert, Technik und Sozialtheorie (Frankfurt am Main/New York 1998) 29-81.

Latour, B. Zirkulierende Referenz. In: Bruno Latour, Die Hoffnung der Pandora (Frankfurt am Main 2000) 36-95.

Lüning J., Zum Kulturbegriff im Neolithikum, Prähist. Zeitschr. 47, 1972, 145–173.

Nie, N. /Bent, D./Hull, C. H. SPSS: Statistical Package for the Social Sciences (New York 1970).

Stockhammer, P. W. Performing the Practice Turn in Archaeology, Transcultural Studies 1, 2012, 7–42.

81. Verbandstagung WSVA Friedrichshafen

Kulturerbe = Kulturpflicht?  Theoretische Reflexionen zum Umgang mit archäologischen Orten in Deutschland.

Sektion der AG Theorien in der Archäologie und des Forums Archäologie in Gesellschaft bei der 81. Verbandstagung des West- und Süddeutschen Verbandes für Altertumsforschung in Friedrichshafen

Programm

Dienstag, den 29.5.2012

10:30  Einführung (Kerstin P. Hofmann)
11:00  Marianne Pollak (Wien), Wo (k)ein Wille, da (k)ein Weg. Denkmalpflege zwischen kulturellem Gedächtnis und politischer Willensbildung
11:30  Susanne Grunwald (Leipzig), Ein Fundplatz als nationale Gedenkstätte – Der Turm von Zantoch (1934–1945)
12:00  Diskussion
12:30  Mittag
14:00  Matthias Maluck (Schleswig), Danewerk und Haithabu: Inszenierung von Legitimation – Wandel von Denkmalen
14:30  Ulrich Müller (Kiel) & Ulf Ickerodt (Schleswig), Meine Geschichte, deine Geschichte oder unsere Geschichte – oder: Wer ein Monster erschafft, ist auch für die Konsequenzen verantwortlich!
15:00 Diskussion
15:30  Kaffeepause
16:00  Sebastian Sommer (München), Von Kaiser Wilhelm bis zum Welterbe – Deutung und Präsentation des Obergermanisch-Raetischen Limes
16:30  Uta K. Mense (Cottbus), Unbequemes Erbe „Drittes Reich“ am Beispiel des Flächendenkmals der ehemaligen Heeresversuchsanstalt Peenemünde, Usedom
17:00  Diskussion

Mittwoch, den 30.5.2012

9:30  Stefanie Samida (Berlin), Heritagefication: Kulturerbe zwischen ‚Sakralisierung‘ und ‚Eventisierung‘
10:00  Kaffeepause
10:30  Kerstin P. Hofmann (Berlin), Der Grabhügel und Bildstein von Anderlingen: Ein Referenzpunkt für die Konstitution von regionalen Identitäten
11:00  Thomas Meier (Heidelberg), „Erbe“ und „kommende Generationen“. Die Transzendenzmetaphern des Denkmalpflegediskurses
11:30  Abschlussdiskussion

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7. Deutschen Archäologiekongress

Zeitkonzepte – Zeiterfahrung – Zeitgeist

Sektion der AG Theorien in der Archäologie auf dem 7. Archäologiekongress 2011 in Bremen

Programm mit Abstracts 

Montag, 3. 10. 2011
14:00-14:15

Sabine Reinhold

Zeitkonzepte – Zeiterfahrung – Zeitgeist“ – Zur Einführung

14:15-14:45

Antje Theel

Zwischen Nähe und Distanz – Zeit in der Archäologie“

14:45-15:15

Ulf Ickerodt

Gleichzeitiges und ungleichzeitiges, Lebensrhythmen und Eigenzeiten in Vergangenheit und GegenwartBemerkungen zur Unbestimmtheitsrelation von archäologischen Zeitbeobachtungen

Pause
15:30-16:00

Manfred K.H. Eggert

Zeitsprünge oder Die Zeit der Archäologie

16:00-16:30

Wolfram Schier

Zeitbegriffe und chronologische Konzepte in der Prähistorischen Archäologie“

16:30-17:00

Stefanie Samida

Moderne Zeitreisen oder Die performative Aneignung vergangener Lebenswelten“

17:00-17:30

KerstinPannhorst

Jenseits der Chronologie – Zeit im Museum“

ab 19:30 Uhr

T-AG Jubiläumsparty

vermutl. Kantine 5, An der Weide 50, 28195 Bremen, http://www.kantine5.de

Montag, 3. 10. 2011
9:00-9:30

Frank Siegmund

Schnelle Zeiten – langsame Zeiten: archäologische Chronologiesysteme als Geschichtsquelle“

9:30-10:00

Katja Roesler

Typologie und Zeitlichkeit. Zum Begriff des Typs“

10:00-10:30

Thomas Knopf

Die Form der Zeit? ,Kontinuität’ und der Wandel materieller Kultur“

Pause
11:00-11:30

Ulrike Sommer

Zeit und Erinnerung“

11:30-12:00

Martin Furholt

Von der Wiederholung zur Permanenz – Von der Zeitlichkeit Neolithischer Monumente in Südskandinavien“

12:00-12:30

Martin Hinz

Vergangenheit bewahren, Zukunft erbauen? Monumente, Megalithen und Zeitkonzepte“

Mittagspause
13:30-14:00 Mitgliederversammlung der T-AG
14:00-14:30

Mike Teufer

Das Jenseits im Wandel der Zeit“

14:30-15:00

Eva Rosenstock

Siedlungsstratigrafien als materialisierte zyklische und lineare Zeit“

15:00-15:30

Undine Stabrey

Ungleichzeitige GegenwartenArgumentationen in die Archäologie

15:00/15:30-16:00/16:30  Abschlussdiskussion

Sabine Reinhold (Eurasien-Abteilung DAI, Berlin)

ZeitkonzepteZeiterfahrungZeitgeist“ – Zur Einführung

WritingthePastinthePresent“ hieß vor rund 20 Jahren einer der grundlegenden Essay-Bände der postprocessualarchaeology, in dem die Frage diskutiert wurde, ob heutige Archäologen überhaupt in der Lage sind, sinnvolles über vergangene Realitäten auszusagen. Im Zentrum stand damals das semiotische Grundproblem der Sinnvermittlung, doch lässt sich der Titel auch anders deuten. Ist es überhaupt von Bedeutung, heute über die Vergangenheit zu schreiben? Den Sinn der Zeit zu erfassen, die Notwendigkeit der Zeitdeutung sowie das breite Spektrum von Sinnkategorien zu typologisieren, ist Anliegen des Historikers Jörn Rüsen. Seine Intention ist es, durch die Zusammenfassung der Mechanismen und Medien der Zeitdeutung dieses sehr breit erscheinen Thema auf einige Grundlinien zu konzentrieren. Basierend auf seinen Kategorien von Zeitsinn und Zeitbewältigung soll diskutiert werden, in wie fern sie als Basis von Diskursen in der Archäologie zu nutzen wären. So gäbe beispielsweise sein ‚Mythologischer Zeitsinn‘ etlichen archäologischen Diskussionen zur Sozialgeschichte und der Bedeutung von Eliten eine neue Denkrichtung. ‚Historischer Zeitsinn‘ lässt sich hinter der Errichtung von ‚zeit-resistenten‘ Monumenten vermuten, schließt man sich den Überlegungen von Maurice Halbwachs und Jan Assman zur Konstruktion von kollektiven Erinnerungen als ein Aspekt eines historischen Bewusstseins an. Das Konzept des ‚Strategischen Zeitsinns‘ schließlich könnte die Diskussion um Zeitmessungen in der Vorgeschichte beflügeln, denn hierbei geht es um die Beherrschbarkeit und Vorhersagbarkeit von zyklischen Ereignissen. Die ‚Typologie der Zeit‘ versteht sich als Einleitung in die folgende Diskussion, die ganz unterschiedliche Aspekte eben solcher Zeitkonzepte beleuchten.

Antje Theel (Professur für Ur- und Frühgeschichte, Leipzig)

Zwischen Nähe und DistanzZeit in der Archäologie

Die Archäologie arbeitet Gavin Lucas zufolge mit einem Zeitkonzept, welches in einem temporalen Dualismus wurzelt. Vergangenheit und Gegenwart werden hier in ein Verhältnis zueinander gesetzt, welches gleichermaßen von Kontinuität und Diskontinuität, Distanz und Nähe gekennzeichnet ist. So operiert die Archäologie einerseits mit der Vorstellung von einer Vergangenheit, die aufgrund ihres unwiederbringlichen Vergangenseins in einer unüberwindbaren Distanz zur Gegenwart steht. Zugleich aber wird diese absolute Trennung mittels Chronologie, die hier als einigendes Band wirkt, wieder überwunden. Im Vortrag soll dieses Phänomen der temporalen Ambivalenz des archäologischen Zeitkonzepts näher untersucht werden.

Ulf Ickerodt (Archäologisches Landesamt SchleswigHolstein, Schleswig)

Gleichzeitiges und ungleichzeitiges, Lebensrhythmen und Eigenzeiten in Vergangenheit und GegenwartBemerkungen zur Unbestimmtheitsrelation von archäologischen Zeitbeobachtungen

Die chronologische Bewertung des archäologischen Untersuchungsmaterials sowie dessen inhaltliche Deutung gehen zumeist eine enge Symbiose ein. Die metatheoretische Basis hierfür ist das europäische Entwicklungsdenken, dessen wissenschaftliche und gesellschaftliche Akzeptanz archäologische Forschung erst ermöglicht haben. Auf einer inhaltlichen Ebene waren hierfür ethnografische Feldbeobachtungen die Basis, die als gemachte Einmalbeobachtungen in Form von allgemeingültigen Sätzen für die menschliche Vor- und Frühgeschichte verallgemeinert wurden und so insbesondere für die frühen Perioden der Menschheitsgeschichte ein Bild langfristiger kultureller Unveränderlichkeit suggerierten. Dieser statischen und als rückständig empfundenen Vergangenheit wurde die als Beschleunigung wahrgenommene Moderne antithetisch gegenübergestellt. Diese Gleichsetzung resultiert aus der Verschmelzung „unserer“ kulturellen Eigenzeit (= emische Perspektive), d. h. unserer gesellschaftlichen Art, in einer Wissensgesellschaft mit Raum-Zeit-Zusammenhängen umzugehen, mit naturwissenschaftlichen Datierungen und Chronologiesystemen (= etische Perspektive) und führt zu einer inhaltlichen Unbestimmtheit des archäologischen Deutens, das den Problemfeldern der Reaktivität oder der metaphysischen Deduktion entspringt.

Vergleichbares gilt natürlich auch für den Umgang mit anderen kulturellen Eigenzeiten, d. h. für Bereiche, in denen kulturelle Eigenzeiten bzw. emische Perspektiven miteinander interagieren. Hinzu kommen noch die aus dem archäologischen Quellenmaterial selbst stammenden Unbestimmtheiten wie chronologische Unschärfe, kulturelle Variabilität, Kontaktphänomene, Kulturwandel, Lückenphänomene sowie wissenschaftliche Gebundenheit oder Unvollendetheit.

Im Rahmen dieses Beitrags werden die Auswirkungen dieser unterschiedlichen Einflussfaktoren auf archäologische Praxis des Umgangs mit Zeit und Zeitbeobachtungen hinterfragt.

 

Manfred K.H. Eggert (Institut für Ur- und Frühgeschichte und Archäologie des Mittelalters, Universität Tübingen)

Zeitsprünge oder DieZeit der Archäologie

‚Zeit’ wird in diesem Vortrag als ein höchst mehrdeutiges Konzept verstanden. Im Vergleich zur philosophischen und ethnologisch-soziologischen Diskussion dieses Konzeptes scheint seine Position in der Archäologie relativ klar. Bei näherem Hinsehen stellt sich jedoch heraus, dass dies bestenfalls für das technizistische, ‚chronometrische’ Verständnis von Zeit zutrifft. Aber selbst hier mangelt es weitgehend an kritischen Analysen. Andererseits gibt es im angelsächsischen archäologischen Schrifttum durchaus Versuche, über das traditionelle Verständnis hinauszugelangen (z. B. World Archaeology 25/2, 1993).

Der Vortrag verfolgt ein vergleichsweise bescheidenes Ziel. Zunächst werden einige wesentliche Aspekte des Konzeptes ‚Zeit’ erörtert. Auf dieser Grundlage gilt es, den Zeitbegriff der Archäologie zu charakterisieren. Dabei wird es jedoch weniger um die relative und absolute Chronometrie, also um ihre Methodik, ihre Kategorien und ihr Potential gehen. Vielmehr sind metatheoretische Überlegungen zum archäologischen Zeitbegriff angestrebt.

Diese Überlegungen basieren auf der gängigen Unterscheidung von Forschungsobjekt und Forschungssubjekt. Konkret wird zwischen Ur- und Frühgeschichte auf der einen und Archäologie auf der anderen Seite differenziert. In diesem Rahmen soll dann der mit dem Begriff ‚Zeitpfeil’ bildhaft zum Ausdruck gebrachte Prozess der Zeitdimension der ur- und frühgeschichtlichen Vergangenheit betrachtet werden: Was ist ‚vergangene Zeit’? Wie und bis zu welchem Grade spiegelt sich ‚vergangene Zeit’ archäologisch? Was sind die Besonderheiten dieser Spiegelung? Und schließlich: Wie verhält sich die archäologisch erfassbare Spiegelung zur historischen Realität?

Wolfram Schier (Institut für Prähistorische Archäologie, FU Berlin)

Zeitbegriffe und chronologische Konzepte in der Prähistorischen Archäologie“

Der Vortrag behandelt verschiedene Zeitbegriffe und Konzepte der Zeitwahrnehmung, –abbildung und –messung in der Prähistorischen Archäologie. Der Wandel der Zeitkonzepte wird zum einen in einen forschungsgeschichtlichen Kontext gestellt, zum anderen aber auf seine Wechselwirkungen mit jeweils vorherrschenden chronologischen Methoden und Deutungsparadigmen untersucht. So lassen sich beispielsweise fraktale Zeitkonzepte mit kulturevolutionistischen Modellen korrelieren, während etwa der gegenwärtige Trend zu metrischen Chronologiekonzepten mit Modellen des exogenen Kulturwandels (etwa durch Klimaschwankungen) einhergeht. In methodologischer Hinsicht werden die Zeitkonzepte skalentheoretisch analysiert. Dabei lassen sich beispielsweise ordinale, metrische, lineare, nichtlineare oder probabibilistische Zeitskalen unterscheiden, wobei der Skalentyp die Art und Qualität chronologischer Aussagen bestimmt: quantitative Epochenvergleiche lassen sich etwa nur anhand metrischer Zeitskalen durchführen, Aussagen über zeitliche Dynamik sind nur anhand linearer Zeitskalen möglich. Häufig lässt sich eine Diskrepanz zwischen den theoretischen Eigenschaften von Zeitskalen und der chronologischen Praxis von Archäo­logInnen beobachten, die implizit und zuweilen unreflektiert chronologiefremde Prämissen und Hypothesen in den Prozess der Zeitbestimmung einbeziehen.

Stefanie Samida (Institut für Ur- und Frühgeschichte und Archäologie des Mittelalters, Universität Tübingen)

Moderne Zeitreisen oder Die performative Aneignung vergangener Lebenswelten“

Die erlebnisorientierte Vermittlung historischer Themen hat seit den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts stetig zugenommen. Darunter fallen auch jene Geschichtsdarstellungen, die unter dem Label ‚Living History‘ firmieren. Unter diesen englischen Begriff ist eine aus den USA stammende, ambivalente Darstellung von Geschichte zu fassen, die im Deutschen in der Regel mit ‚lebendige/wiederbelebte/belebte Geschichte‘ oder ‚Geschichte erleben‘ umschrieben wird und bei der es um den Nachvollzug vergangener Lebensverhältnisse geht. Zumeist synonym oder zumindest in einem Atemzug wird auch der Begriff ‚Re-Enactment‘ verwendet. Die Aufführung solcher Re-Enactments findet vornehmlich in Freilichtmuseen statt und ist beim Publikum aufgrund des ‚Mitmach‘-Charakters, also eines authentische Erfahrungen versprechenden Ansatzes beliebt: optisches, akustisches und haptisches Erleben stehen im Vordergrund. In den letzten Jahren haben diese Darstellungen vermehrt auch in archäologische Fernsehdokumentationen und so genannte ‚Doku-Soaps‘ (z. B. Steinzeit – Das Experiment) Einzug gehalten. Ausgesuchte oder besser ‚gecastete‘ Zeitgenossen werden in einen rekonstruierten historischen Raum versetzt und müssen sich in der inszenierten ‚Fremde‘ einer ihnen unbekannten, vermeintlich historischen Lebenswelt stellen. Laien ‚reisen‘ so für kurze Zeit ins 19. Jahrhundert oder in die Steinzeit und werden zu Re-Enactors vor den Filmkameras. Beide hier beschriebenen Formen lassen sich als moderne Zeitreisen umschreiben, in denen die Re-Enactors den Versuch unternehmen, ‚Vergangenheit‘ in die Gegenwart zu holen und sie körperlich und sinnlich erfahrbar zu machen. Dass es sich hierbei allerdings nur um eine konstruierte Vergangenheit in der Gegenwart handelt, muss nicht weiter betont werden. Kaum hinterfragt ist dagegen der umgekehrte Fall: die Rolle der Gegenwart in der nachgespielten und nachempfundenen Vergangenheit. Diese ‚Vergangenheit‘ ist kaum mehr als ein „kulturelles Konstrukt der Jetztzeit, das primär heutige Bedürfnisse und Notwendigkeiten dokumentiert“; ein Konstrukt also, in dem sich unsere zeitgenössische Lebenswelt widerspiegelt.

Im Zentrum des geplanten Beitrages stehen die ‚Zeitreisenden‘ und ihr Eintauchen in fremde Welten. Dabei soll die Frage verfolgt werden, mit welchen Mitteln (außer ihrer ‚Verkleidung‘) die Akteure meinen, den Zeitsprung herstellen zu können und was sie motiviert, sich aus unserer Zeit in eine andere zu begeben. Die Analyse stützt sich dabei auf aktuelle empirische Untersuchungen, bei der ‚Zeitreisende‘/Re-Enactors interviewt wurden. Die Beschäftigung mit diesem Themenfeld mag auf den ersten Blick für die Archäologie marginal erscheinen. Sie ist es jedoch nicht, da die Erweiterung des theoretisch-methodischen Rüstzeugs der Archäologie bei der Frage nach der Wechselbeziehung von Archäologie und Gesellschaft eine zunehmend wichtige Aufgabe spielt, gerade wenn es um Fragen der Deutung und Vermittlung vergangener Lebenswelten geht.

M. Fenske, Abenteuer Geschichte. Zeitreisen in der Spätmoderne. Reisefieber Richtung Vergangenheit. In: W. Hardtwig/A. Schug [Hrsg.], History Sells! Angewandte Geschichte als Wissenschaft und Markt, Stuttgart 2009, 79–90; 84.

Kerstin Pannhorst (Stiftung Neanderthal Museum)

Jenseits der Chronologie – Zeit im Museum“

Eine der zentralen Aufgaben von Museen ist das Bewahren, der Versuch, Objekte und Wissen über die Zeit hinweg zu erhalten, um Einblicke in vergangene Lebenswelten zu ermöglichen.

Zeit erscheint im Museum zunächst als Chronologie, welche Objekte in Raum und Zeit verankert und dem Besucher eine zusammenhängende Erzählung bietet. Eine besondere Herausforderung ist es dabei, neben den reinen Zahlen beim Besucher ein Verständnis für die Dimensionen historischer, archäologischer oder paläontologischer Zeiträume zu generieren. Jenseits der Chronologie kann Zeit selbst zum Ausstellungsgegenstand werden. Ein abstraktes Thema, das auch die Wissenschaft nicht dingfest zu machen vermag, muss dabei dem Museumsbesucher verständlich gemacht werden. Lernen im Museum ist ein konstruktives Vorgehen, das als Anpassungsprozess zwischen Individuum und Umwelt verstanden werden kann. Der individuelle Lernerfolg ist dabei abhängig von Interesse, Motivation, Vorwissen, Erwartungen und Informationskompetenz des Besuchers. Im Vortrag soll dargestellt werden, wie im Museum ein Lernumfeld geschaffen werden kann, das diese Heterogenität der Besucher berücksichtigt. Anhand von Beispielen aus verschieden Ausstellungen sollen Möglichkeiten aufgezeigt werden, die Zeit dem Spannungsfeld zwischen unergründlichem Rätsel und selbstevidenter Gegebenheit zu entreißen.

Frank Siegmund (Departement Altertumswissenschaften, Universität Basel)

Schnelle Zeiten – langsame Zeiten: archäologische Chronologiesysteme als Geschichtsquelle“

Seit mehr als einhundert Jahren werden archäologische Chronologiesysteme erstellt, verfeinert und erneuert. Die absolute Zeitdauer der einzelnen Abschnitte moderner Chronologiesysteme ist unterschiedlich. Auch mit einem „großen Material und einer guten Methode” (Montelius 1903) können materialbasierte Chronologiesysteme nur dann zu kurzen Phasen kommen, wenn in den beobachteten Kulturen ein entsprechender Wandel im Sachgut geschah. Chronologiesysteme sind daher heute weniger ein Zeugnis unterschiedlicher Quellenlage oder Intensität und Qualität archäologischer Forschung, vielmehr spiegeln sie eine historische Realität wider. Eine diachrone Sammlung von Chronologien erlaubt es, Zeiten schnellen Wandels und Zeiten höherer Stabilität zu kontrastieren. Innerhalb der Epochen zeigen die von Archäologen gewählten „Leittypen” an, in welchen Lebensbereichen die damaligen Menschen bevorzugt Veränderungen ausdrücken wollten.

KatjaRoesler (Institut für Archäologische Wissenschaften, Frühgeschichtliche Archäologie und Archäologie des Mittelalters, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg)

Typologie und Zeitlichkeit. Zum Begriff des Typs“

Mit der Typologie hat die Archäologie eine Möglichkeit zur Feststellung von relativer Zeitlichkeit. Dieser Methode liegt der Begriff des Typus zugrunde, der auf zweierlei Art gelesen werden kann: als normativer Begriff, der die regelmäßige Widerholung benennt oder im Sinne von Bedeutsamkeit. Der Vortrag möchte den archäologischen Typ-Begriff mit den Typusbegriffen aus der Geschichtswissenschaft (Dilthey, Burckhardt, Schieder), den kategorialen Typen der Naturforschung (Linné) und der Verbindung von Typus und Genese bei Goethe spiegeln, um die verschiedenen Bedeutungsmöglichkeiten sichtbar zu machen. Ziel ist, die unterschiedlichen Bedingungen für Zeitlichkeit, die in diesen Bedeutungen liegen, herauszuarbeiten.

Thomas Knopf (Institut für Ur- und Frühgeschichte und Archäologie des Mittelalters, Universität Tübingen)

Die Form der Zeit? ,Kontinuität’ und der Wandel materieller Kultur“

In gängigen Geschichtskonzeptionen spielen Kontinuitätsvorstellungen eine nicht unbedeutende Rolle. Für die Archäologie heißt das, materielle, in der archäologisch überlieferten Kultur erkannte Ähnlichkeiten werden in immaterielle Bedingungen und Ursachen übersetzt. Kontinuität wird dabei für das archäologische Material nicht als eine Konstanz oder Unveränderlichkeit, sondern als eine Art steter Wandel angesehen. Darauf aufbauend wird aber nicht selten eine weitgehend unveränderte kulturelle Konstanz, z. T. auch ethnischer Art, der Träger dieser materiellen Kultur postuliert. Wenn also aus der formalen Abfolge von Keramik, Metall usw. eine zeitliche konstruiert wird (was anhand geschlossener Funde, absoluter Daten usw. methodisch korrekt durchgeführt werden kann) so fehlen häufig die für eine kulturhistorische Interpretation notwendigen Konzepte zu Ursachen des Wandels materieller Kultur oder sie werden schlicht der eigenen Erfahrungswelt entnommen. Diese ist zwangsläufig von zeitlichem Zusammenhang und Stetigkeit geprägt; ebenso wird Geschichte prinzipiell als etwas sinnhaft Abfolgendes betrachtet. Der Beitrag möchte die Problematik der Begriffe, der Terminologie und Konzepte vorstellen, Beispiele anführen und Möglichkeiten der Überwindung aufzeigen.

Ulrike Sommer (Institute of Archaeology, UCL London)

Zeit und Erinnerung“

„Geschichtsbewußtsein“ und eine Zeitrechung, die linear ist und auf einer Intervallskala beruht, gelten als Merkmale moderner Gesellschaften. Nicht-industriellen Gesellschaften und, in Analogie, prähistorischen Gesellschaften werden dagegen als „kalt“, veränderungsunwillig oder -resistent beschrieben und diesen werden „zeitlose“ oder zyklische Zeitkonzepte zugeschrieben, ohne daß es dafür Belege gäbe. Evolutionäres Denken und die Ideen von Autoren wie Elliot Smith und Frazer dürften hier einen unreflektierten Hintergrund bilden.

Wie neuere 14C-Daten zeigen, gibt es jedoch durchaus Abschnitte der Vorgeschichte, in denen sehr rasche Veränderungen stattfanden, die auch den Zeitgenossen deutlich sichtbar waren, bzw. die von diesen gezielt betrieben wurden. Dem stehen andere Perioden gegenüber, in denen so wenig (archäologisch sichtbare) Veränderung stattfindet, daß man mit Mechanismen rechnen muß, die diese sanktionieren und weitgehend unterbinden.

Wie wurden also Veränderungen definiert und wahrgenommen, wie wurde dementsprechend persönliche Erinnerung in „Vergangenheit“ oder gar Geschichte verwandelt? Als weitgehend einzige Quelle stehen uns hier Befunde meist monumentaler Art zur Verfügung, die über einen längeren Zeitraum oder mehrfach verwendet wurden. In meinem Vortrag werde ich an Hand von Beispielen aus dem Neolithikum darüber reflektieren, wie solche Wiederverwendung das Verstreichen von Zeit entweder negieren oder betonen kann, indem Unterschiede erzeugt oder verleugnet werden.

Martin Furholt (Institut für Urund Frühgeschichte der CAU, Kiel)

Von der Wiederholung zur PermanenzVon der Zeitlichkeit Neolithischer Monumente in Südskandinavien

Der Begriff der Monumentalität legt gemeinhin eine Langlebigkeit nahe. Ein Monument sei, so die meist implizite Auffassung, eine Struktur, die intentionell auf Dauerhaftigkeit ausgelegt sei, mit dem Ziel sozial relevante Botschaften für kommende Generationen zu konservieren bzw. an sie zu übermitteln. Obgleich dies für viele Monumenttypen ganz sicher auch zutrifft, so ergeben sich bei genauerer Betrachtung der Baustruktur und des Kontextes der neolithischen Monumente Südskandinaviens und Norddeutschlands Zweifel an solch einer Interpretation, die zumindest für einige Anlagen eine Diskussion ihrer zeitlichen Dimension notwendig erscheinen lässt. Eine Betrachtung der architektonischen Besonderheiten sowie der räumlichen und zeitlichen Verbreitung und Entwicklung von Hügeln und Megalithen legt nahe, dass zunächst im Rahmen der ersten Monumente der Akt der Bautätigkeit als kontinuierlicher, identitätsstiftender Prozess im Vordergrund gestanden haben wird, während die Schaffung permanenter Strukturen erst als spätere Entwicklung anzusehen ist, deren Intentionalität ebenfalls zu diskutieren ist. Sie könnte aber durchaus mit veränderten Zeitkonzepten in Verbindung gebracht werden.

Martin Hinz (Institut für UrundFrühgeschichte der CAU, Kiel)

Vergangenheit bewahren, Zukunft erbauen? Monumente, Megalithen und Zeitkonzepte

Der Lauf der Zeit – er erscheint uns als absolutes, natürliches Phänomen. In der Vorstellung unserer naturwissenschaftlich geprägten westlichen Welt wird er als Prozess mit einer klaren Richtung angesehen, der entlang des thermodynamischen Zeitpfeils von der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft verläuft. In der Sammlung der intersubjektiv geteilten Anschauungen parexcellence, der Wikipedia, heißt es dazu: “Aus einer philosophischen Perspektive beschreibt die Zeit das Fortschreiten der Gegenwart von der Vergangenheit kommend zur Zukunft hinführend”. Wir sind gewohnt,tr valign=“TOP“/td im Sinne dieser Definition zu denken und auch die Geschehnisse der der Vergangenheit zu interpretieren, wie wir sie beobachten oder uns vorstellen.

Dies ist auch der Fall für monumentale Hinterlassenschaften und ihre Bedeutung für vergangene Gesellschaften. Eine nahe liegende Interpretation ist es, dass der Bau solcher Monumente als Ereignis in der zeitgenössischen Gegenwart stattfindet und dazu dient, Botschaften über die Gegenwart oder Vergangenheit in eine Zukunft zu übermitteln, in der dieses Ereignis dann die Vergangenheit darstellt. Eine andere mögliche Bedeutung ist die für die zeitgenössischen Anderen, für die die Botschaft mögliche Handlungen in der Zukunft beeinflussen soll. Monumentale Hinterlassenschaft werden in diesem Sinne zum Beispiel als ‚external symbolic storage devices‘ oder als Territorialmarkierungen gegenüber anderen sozialen Gruppen gedeutet. Dieser Vortrag soll sich mit der Frage beschäftigen, ob wir annehmen können, das unsere Zeitwahrnehmung unhinterfragt auf vergangene Gesellschaften übertragen werden kann. Über alternative Zeitkonzepte in der Ur- und Frühgeschichte ist zwar schon verschiedentlich spekuliert worden, deren weiterführende Bedeutung als bestimmende Hintergrundfolie für die Interpretation von Phänomenen ist jedoch bisher kaum beleuchtet. Dies soll hier am Beispiel der megalithischen Bestattungsweise versucht werden, ohne dass ein Anspruch erhoben werden kann, die Zeitsicht der neolithischen Gesellschaften eindeutig bestimmen zu können. Vielmehr sollen verschiedene alternative Deutungen vor dem Hintergrund unterschiedlicher bekannter Zeitkonzepte nebeneinander gestellt werden.

Mike Teufer (Eurasien-Abteilung DAI, Berlin)

Das Jenseits im Wandel der Zeit“

Ein Zeitbewusstsein wird, wie die Forschungen Jean Piagets gezeigt haben, in der frühen Ontogenese von jedem einzelnen Menschen entwickelt. Dieser Prozess vollzieht sich in verschiedenen Stadien und „setzt sich in seiner Entwicklung so lange fort, bis eine lebensdienliche Form gefunden ist“ (Dux 1986). Da diese „Lebensdienlichkeit“ nach Dux von der Handlungskompetenz des Individuums abhängig ist, und diese wiederum durch das Entwicklungsniveau der Gesellschaft bestimmt wird, ist auch die Entwicklung des Zeitverständnisses kulturhistorisch determiniert.

Dass das Zeitbewusstsein maßgeblich die Einstellung zum Tod bestimmt, liegt auf der Hand. Auf der Basis früher, eng mit den Naturkreisläufen verbundener Zeitvorstellungen, in denen die Zukunft letztlich nur als eine Wiederholung der Vergangenheit verstanden wurde, bedeutete Tod Rückkehr zum Ursprung. Der Tod war damit „handhabbar“. Erst mit der Zunahme von Autonomie gegenüber der Natur markiert der Tod eine als schmerzlich empfundene Grenze dieser kulturellen Unabhängigkeit, dem mit Versuchen der Todesüberwindung begegnet wird (Dux 1986). Streiflichtartig werden einige dieser frühen Versuche dargelegt, um dann den Fokus auf den mittelasiatischen Raum zu legen, wo es möglicherweise zu Beginn der Eisenzeit, auf der Grundlage einer Weiterentwicklung des Raum- und Zeitverständnisses, zur Ausbildung eines Unsterblichkeitsglaubens kommt.

Dux 1986 – G. Dux, Die Zeit in der Geschichte. Ihre Entwicklungslogik vom Mythos zur Weltzeit (Frankfurt am Main 1986).

Eva Rosenstock  (Institut für Prähistorische Archäologie, FU Berlin)

Siedlungsstratigrafien als materialisierte zyklische und lineare Zeit“

Siedlungsstratigraphien dienen seit dem Beginn feldarchäologischer Forschung als Zeitmaßstäbe (Schliemann 1874; Schier 2001), wobei tief stratifizierte Fundplätze wie Tellsiedlungen stets im Vordergrund des Interesses standen und Flachsiedlungen lange zu Unrecht pauschal als kurzlebiger angesehen wurden. Auch die Betonung fund- oder stratigraphiebasierter Chronologiesysteme dürfte eine Folge der Ausprägung von Siedlungen und damit der Unsichtbarkeit von Zeit in der jeweiligen Großregion sein.

Doch nicht nur die Auseinandersetzung mit den Zeitkonzepten der Archäologen, sondern auch mit den vermuteten Zeitkonzepten des prähistorischen Menschen findet vor allem anhand von Tellsiedlungen statt. Hier werden die akkumulierten Schichten meist als lineare Manifestation zyklisch ablaufender Siedlungs- und Wirtschaftsvorgänge gesehen (Bailey 1993).

Das Paper versucht, ausgehend von einem Überblick über beide Zeitperspektiven, in einem ethnoarchäologisch-wirtschaftsarchäologischen Ansatz weitere derartige Rhythmen des Zusammenschwingens von Wald- und Landwirtschaft und Siedlungstätigkeit herauszuarbeiten und dabei bewusst die Beschränkung auf tief stratifizierte Fundplätze zu vermeiden.

D.W. Bailey, ChronotypictensioninBulgarianprehistory: 6500–3500 BC. World Archaeology 25/2, 1993, 204–222.

W. Schier, Tellstratigraphien als Zeitmaßstab. In: R. M. Boehmer/J. Maran (Hrsg.), Lux Orientis. Archäologie zwischen Asien und Europa. Festschrift für Harald Hauptmann (Rahden/Westfalen 2001).

H. Schliemann, Trojanische Alterthümer. Bericht über die Ausgrabungen in Troja in den Jahren 1871 bis 1873 (Leipzig 1874).

Undine Stabrey (VisitingScholaramMetaMediaLabArchaeologyCenter, Stanford, USA)

Ungleichzeitige Gegenwarten – Argumentationen in die Archäologie“

Wissenschaftlich Neues und gesellschaftlicher Wandel wechselwirken als Zusammenspiel innerer und äußerer Dynamiken: Die Gegenwart um 1800 verändert Temporalstrukturen ebenso spezifisch wie sie als neue Zeitstruktur Wissensbereiche erst hervorbringt. In diesen temporalen Konstellationen entsteht auch die Archäologie mit ihrem fortan zeitorientierten Gegenstand, der systemisch die Logik der Archäologie formt: dem Materiellen vergangener Kulturen. Gerade die allgemeine temporale Spezifik eines neuen, stets wachsenden „materielles Mehr“ markiert eine der massivsten (auch im wahrsten Wortsinne) Veränderungen, die in der Archäologie die Herausbildung der ersten Methode bewirken und auf diese Weise Archäologie verfachlichen – und: Vorstellungen wie etwa „die Bronzezeit“, und damit Imaginationen ältester Geschichte, erzeugen.

Der neue Umgang mit den rasant mehr werdenden Objekten des Altertums bedingt die Zeitlichkeit des neuen dingorientierten Arguments nach 1800 und die Anfänge archäologischer Zeit in dieser weltbildwandelnden Gegenwart; auch hier gilt: beide wechselwirken. Ihre Gründe und Formen entfaltet der Vortrag entlang des Konzeptes Steinzeit-Bronzezeit-Eisenzeit; Resultat der archäologischen Verzeitlichung der neuen temporalen Möglichkeiten im Zeitgeist der spezifischen Verzeitlichung der Jahrzehnte um 1800, dinglicher Ausdruck neuen Denkens, Fundierung archäologischer Logik.

 

80. Verbandstagung des West- und Süddeutschen Verbandes

„Jagen, Kämpfen, Saufen?

Zur Konstruktion von Männlichkeit in ur- und frühgeschichtlichen Gesellschaften“ 

Sektion der AG Theorie in der Archäologie auf der 80.  Tagung des West- und Süddeutschen Altertumsverbandes vom 25. bis 28. Mai 2010 in Nürnberg

 

Uhrzeit Programmpunkt
10.30 Nils Müller-Scheeßel, Frankfurt a. M.: Einführung in das Thema
11.00 Steffen Knöpke, Zürich: Männer, Krieger, Tischgenossen – Der urnenfelderzeitliche Männerfriedhof von Neckarsulm
11.30 Matthias Jung, Frankfurt a. M.: Der „Big Man“ als Verselbständigung eines theoretischen Konstruktes von Männlichkeit
12.00 Mittagspause
14.00 Sabine Rieckhoff, Leipzig: Raubgierig, kriegslüstern, trunksüchtig? Fragen zum Männlichkeitsideal der Eisenzeit
14.30 Patrick Wagner, Freiburg i. Br.: Mannsbilder – Darstellungen der Jagd in der Ikonographie der frühen Eisenzeit und ihre soziale Bedeutung
15.00 Nils Müller-Scheeßel, Frankfurt a. M.: ‚Wann ist man ein Mann?‘ Synchrone und diachrone Veränderungen von männlichen Identitäten während der Älteren Eisenzeit Mitteleuropas
15.30 Pause
16.00 Svend Hansen, Berlin: Die Geburt des Helden
16.30 Laury Sarti, Hamburg: Vom Soldat zum Krieger? Vorstellungen von Männlichkeit zwischen Spätantike und Frühmittelalter
17.00 Abschlussdiskussion

 

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