Archiv der Kategorie: Programm mit Abstracts

Programm „Die Dinge einmal anders betrachten / Looking at Things Differently“

Programm der Internationalen Konferenz „Die Dinge einmal anders betrachten – Neuer Materialismus in der Archäologie / Looking at Things Differently – New Materialist Approaches in Archaeology“

Gemeinsame Tagung der AG Theorien in der Archäologie (TidA) mit dem Leibniz-Zentrum für Archäologie (LEIZA) in Mainz, dem Exzellenzcluster ROOTS und dem Marburger Centrum für Antike Welt (MCAW) vom 20.-21.03.2025.


Programm – Abstracts durch Ausklappen der Vortragsslots

Donnerstag 20.3.2025, Vortragssaal, LEIZA, Mainz

08:00–09:00 • Registration and Welcome

09:00–09:10 • Alexandra W. Busch (LEIZA) & Martin R. Renger (TidA) • Welcome

09:10–09:30 • Organizers • Introduction

Session: Ontologies of Past Worlds • Chair: Martin R. Renger

09:30–10:00  • Matthias Jung • „Neue Wege der Ontologie“ und ihr möglicher Beitrag zum archäologischen Erkenntnisfortschritt

Das vor einigen Jahren wiedererwachte Interesse an der Ontologie (oder besser: Ontologien im Plural) steht in einem komplexen Wechselverhältnis zu den vielfältigen Positionen innerhalb des Neuen Materialismus. Zu unterscheiden ist dabei zwischen Versuchen der Restitution einer dezidiert philosophischen Ontologie (Harman, Meillassoux, Ferraris) und solchen der Rekonstruktion von Ontologien der Praxis im Sinne kulturspezifischer Seins- und Weltverständnisse. Zwei wichtige Stichwortgeber für eine Neukonzipierung der Ontologie im letztgenannten Sinne sind die Anthropologen Eduardo Viveiros de Castro und Philippe Descola, deren unterschiedliche Reformulierungen der Ontologie grundlegende Gemeinsamkeiten mit dem Neuen Materialismus aufweisen wie etwa die Kritik an Repräsentationalismus, die Betonung „flacher“ und „multinaturalistischer“ Ontologien, das Bemühen um die Herstellung von Symmetrien zwischen theoretischen und praktischen sowie westlichen und indigenen Ontologien, die Ablehnung starrer Dualismen wie Natur/Kultur, Subjekt/Objekt, materiell/immateriell etc. Ich möchte in meinem Beitrag der Frage nachgehen, ob diese Ontologien dabei helfen können, die Weltbilder prähistorischer Gesellschaften zu verstehen, ob also, mit anderen Worten, die archäologischen Quellen eine hinreichende Auflösung bezüglich der ihnen zugrundeliegenden Ontologien gestatten. Diskutiert werden sollen die dabei auftretenden methodischen Herausforderungen anhand von empirischen Beiträgen, die einen solchen Transfer herzustellen versuchen, wie beispielsweise Laurent Oliviers Übertragung einer „analogistischen“ Ontologie auf die Latènekultur.

10:00–10:30 • Sarah Bockmeyer • Places of Transformation AND Places of Remembrance. New Materialist Approaches to Different Burial Forms in the Early Neolithic Funnel Beaker Groups in Northwest Germany (3500 – 3000 BCE)

The early Neolithic Funnel Beaker groups in north-west Germany are not only known for building monumental megalithic burials, but contemporaneously buried some of their deceased in earthen burials of varying shape and form. This has so far been interpreted as a difference in status and wealth, though both types of burials have at times revealed elaborate architectural elements and large numbers of grave goods.

Using new materialist approaches in combination with studies of modes of relational personhood have revealed how the different burial forms served different functions within the transformation and remembrance of the deceased in Funnel Beaker society and furthermore allowed insights into the structure of the world within these groups.

This paper will use examples of my ongoing PhD study to demonstrate how new materialism can help understand how the world of the Funnel Beaker groups differed from our current narratives of the different forms of burial, and to enhance understanding of the roles the materials had in decision making processes in the past.

10:30–11:00 • Coffee Break

Session: Vibrant Matter(s) • Chair: Martin R. Renger

11:00–11:30 • Susan Greaney • Mapping Unequal Power Relations at Monument Complexes in Neolithic Britain

The concept of vibrant matter can apply not just to things, materials and objects, but also to places. Particular landscapes, geological features and traces of past activities can be actants, involved in relations with humans. For Neolithic monument complexes in Britain, I have found it productive to map the detail of these relations over place and time, beginning with a flat ontology that does not give humans primacy and being attendant to non-human actants, including places. These unfolding relations were often asymmetrical or unequal, and in this sense were relations of power, which can give us insights into beliefs and worldviews of Neolithic people. Monument complexes emerge as places where relations of power with other beings or things could be negotiated and worked through. However, to fully embrace post-humanism in New Materialist approaches, there needs to be acknowledgement that humans are differently involved in relations with non-human places, materials and things – and through these, with each other. Facing this challenge will allow us to think more about inequalities, asymmetries and power relations in the past. Three cases studies drawn from Neolithic Britain will illustrate these evolving ideas.

11:30–12:00 • Julia Ziener • Vitalität von Salz. Briquetage als künstlerisches Forschungsinstrument

Während Konzepte des Neuen Materialismus überwiegend theoretisch bleiben, liefert das vorliegende Projekt praktische Ansätze, wie die Vitalität (Bennett 2010)1 von Material im Rahmen einer künstlerischen Forschung ergründet werden kann.

Untersucht wurden zwei Industriestandorte Sachsen-Anhalts, an denen Salz als industrieller Rückstand in umliegende Gewässer geleitet wird. Durch einen interdisziplinären Ansatz wird das Salz in seinen historischen, kulturellen, sozioökonomischen und ökologischen Facetten kontextualisiert und als vitale Entität rekontextualisiert.

Zentrale Rolle trägt hierbei das Salzsiedewerkzeug, die Briquetage, welche die Solesalzgewinnung in der untersuchten Region auf die jungsteinzeitliche Bernburger Kultur (ca. 3100–2560 v. Chr.)2 datiert. Mithilfe von 3D-Scans wurde die 2500 Jahre alte Briquetage digital erfasst und mittels 3D-Keramikdruck reproduziert. Dieses Replikat ermöglicht einen performativen Akt, bei dem das zuvor von der Industrie abgegebene Salz aus den Flüssen extrahiert wird. Die Briquetage wird zu einem am Prozess involvierten Werkzeug, Objekt und Material, stellt somit einen „macro- and microactant“ (Bennett 2010, 23) dar und ist ebenfalls als vitaler Teil der Assemblage maßgeblich an der Wissensgenerierung beteiligt. Dies eröffnet innovative Perspektiven auf das Potenzial von archäologischen Artefakten als aktive Forschungsinstrumente. 

Das Forschungsprojekt verbindet nicht nur historische und zukunftsweisende Technologien, sondern macht die Vitalität des Salzes sichtbar. Die Erkenntnis, dass Material und materielle Praktiken die Entwicklung von Technologien beeinflussen, bildet einen wesentlichen Ansatz für zukünftige Konzepte über Materialität.

  1. Die US-amerikanische Politikwissenschaftlerin und Philosophin Jane Bennett formuliert in ihrem Buch “Vibrant Matter – a Political ecology of things” das Konzept eines vitalen Materialismus, welches die theoretische Basis des vorliegenden Projektes bildet.
  2. Vgl. Museum für Vor- und Frühgeschichte, „Giebichenstein, Sachsen-Anhalt, Deutschland“, in Eisenzeit: Europa ohne Grenzen 1. Jahrtausend v. Chr., Ausstellungskatalog St. Petersburg und Moskau (St. Petersburg, Moskau, Berlin, 2020), 349–50, 349.

12:00–12:30 • Kerstin P. Hofmann, Katja Rösler, Thomas Heide • So beständig wie Stein? Zu römischer Architektur und disiecta membra

As Durable as Stone? On Roman Architecture and disiecta membra

Steine gehören zu den ältesten festen Materialien, die auf der Erde existieren, und sind grundlegender Bestandteil natürlicher, aber auch anthropogen geprägter Landschaften. Heute wird Stein häufig mit Alter, Dauerhaftigkeit, Stabilität und Beständigkeit, mitunter auch Reichtum, Zivilisation und Urbanität assoziiert. Anhand der im Rahmen des Akademielangfristvorhabens „Disiecta Membra“ untersuchten römischen Steinarchitektur wollen wir mit Ansätzen des Neuen Materialismus diese Bedeutungszuschreibungen hinterfragen und zeigen, dass römische Steinarchitektur längst nicht so unveränderbar ist, wie oft angenommen. Vielmehr ist es für die Erforschung und Edition auch sogenannter disiecta membra – verstreuter Bauglieder – von zentralem Interesse, sie nicht als stabile und statische Entitäten, sondern als beständig in Transformation befindlich. Hierfür betrachten wir römische Steinarchitektur in seinen relationalen Bestimmtheiten – dem Auswas, dem Alter, der Größe, dem Gewicht, der Form und Oberflächenfarbe – und in ihren Affordanzen für in der Neuzeit mit dieser konfrontierten Akteuren. Diese existieren nicht unabhängig, sondern sind immer an Wahrnehmungshandeln geknüpft, und bieten Möglichkeiten, unterschiedliche Intra-Aktionen zu untersuchen und Ding-Geschichten als Transformationen von Assemblagen zu erzählen. Neben der Frage, was Stein an Aktionen evoziert, soll auch das Verhältnis zu römischer Steinarchitektur und ihren Baugliedern – Weiternutzung, Aneignung, Zerstörung, (Re-)Konstruktion und Wiederaufbau – beleuchtet werden.

12:30–14:00Lunch

Session: More-than-humans • Chair: Stefan Schreiber

14:00–14:30 • Lukas Kerk • Unkörperliche Körper – Ein postanthropozentrischer Blick auf die Archäologie materiell-diskursiver Erzeugungsknoten

Mit seiner posthumanistischen und postanthropozentrischen Ausrichtung sowie einer Betonung von performativen, flachen und relationalen Ontologien wirft der Neue Materialismus die grundsätzliche Frage auf, inwiefern (post-)moderne Konzeptualisierungen menschlicher Körper insbesondere im archäologischen Zusammenhang noch Bestand haben können. Das Überschreiten von Dualismen und der transversale Charakter neo-materialistischer Denkweisen bietet dabei die Möglichkeit, neue Perspektiven auf die Körper der Vergangenheit zu eröffnen und eine Vielzahl von Fragen zu formulieren: Welche transkorporalen Verflechtungen lassen sich archäologisch nachweisen? Wie wirken das Diskursive und das Materielle bei der Hervorbringung von Körpern zusammen? Welche multiplen Realitäten entstehen durch das Zusammenspiel von Körpern und anderen Dingen im Werden? Welche Praktiken der Grenzziehung sind bei der Assemblage menschlicher, nicht-menschlicher und mehr-als-menschlicher Körper zu beobachten? Insbesondere die archäologisch nachgewiesene dauerhafte Veränderung des Körpers in Form von Tätowierungen, geformten Schädeln, modifizierten Zähnen und weiteren liefert erkenntnisreiche Anhaltspunkte für die Anwendung von Prinzipien des Neuen Materialismus. Im Rahmen des Vortrags sollen am Beispiel archäologisch evidenter permanenter Körpermodifikationen in explorativer Weise Möglichkeiten einer Neubetrachtung menschlicher Körper vor dem Hintergrund neo-materialistischer Sichtweisen dargelegt werden.

14:30–15:00 • Uroš Matić • Eyes, Reed and the Distant Goddess: Ancient Egyptian Faience Kohl Tubes as Intraactive Objects

Ancient Egyptian black eye paint (msdm.t), widely referred to as kohl (from Arabic al-kuḥl), did not serve only a cosmetic function; it was also used as a remedy for eye diseases. Around 1550 BCE, tubes for storing small quantities of kohl were made from reed, wood, ivory, and, more popularly, faience. These tubes were often inscribed with private and royal names and titles and were found in royal and elite private burials, as well as in houses. The size, shape, and decoration of the faience tubes mimicked those of reed tubes. Drawing on New Materialist thinking, I propose that the choice of reed for the original concept and faience for imitations was not accidental—it entangled matter and meaning. In a well-known and celebrated myth, the returning Sun Eye goddess descends from the mountain and emerges from the reed of the marshes of the Nile Valley. She is transformed from enraged (red) to pacified (green), much like an eye treated with kohl. Thus, kohl tubes could have been a type of intraactive objects, ensuring that the effectiveness of kohl emerged from its relationship with the shape, decoration, material, and color of the tubes.

15:00–15:30 • Coffee Break

15:30–16:00 • Shumon T. Hussain • Zoomateriality

Multispecies archaeology is a maturing strand of research, dedicated largely to the complex entanglements of humans and nonhumans diagnosed to be irreducible to mere economic, adaptive, and/or caloric imperatives and ventures. Yet I argue that animal-oriented multispecies archaeologies – or “animal archaeologies” – at present lack proper attention to, or at least a coherent formulation of, the kinds of materialities they belabor. What is required is thus a productive notion of “zoomateriality”, allowing for the problem-oriented analysis of the affordances and potentialities of action and thought relational engagements with animal bodies, body-parts, and ecosystem agencies bring into focus. Clarification of the various dimensions and possibly kinds, perhaps even types, of zoomateriality therefore promises to elucidate what the claim that other animals are active participants of human history may entail (and what not). I explore some of these ideas in relation to Palaeolithic osseous technology and visual art, showcasing that taking more serious notice of the genealogical diversity of the material as well as the distinct materiality of variegated sentient subjects can open up novel empirical, conceptual, and interpretive avenues for archaeological inquiry.

16:00–16:30 • Raphael Berger • Beyond the Critique: Reconstructing the Human in Prehistoric Archaeology from a Posthuman Perspective

Post-humanist thought has de-centred the human and shifted the focus to material things. Actor-Network Theory (ANT), a post-humanist framework, treats all entities – humans and objects alike – as actors within networks. In contrast, the modern understanding of the human emphasizes autonomy and individuality, where humans are seen as free, self-contained ‘individuals’. Archaeologists, however, excavate human remains in the form of skeletons, which are actually ‘dividuals’ made up of 206 parts. Despite these differences, both contemporary and archaeological humans are labelled with the same term, ‘human’, implying equivalence. This paper adopts a post-human perspective, shifting the focus back to ‘humans’, looking at them differently and showing the significant differences between ‘contemporary humans’ and ‘archaeological humans’. In the second, more experimental part, the paper explores how we can deal with ‘humans’ in prehistoric archaeology using Actor-Network Theory.

16:30–17:00 Preview: Archaeological Museum LEIZA • Guide: Henriette Baron

18:00–19:00 • Keynote Ben Jervis • Becoming Urban and Enduring Urbanism in Later Medieval England

Urbanisation is a defining feature of the medieval period of Europe. In this paper I will explore what it meant to be, and to stay, ‘urban’ in later medieval England, drawing on new materialist and post-human ideas to reframe debates about how we define urbanity and to understand urban life as a process of difference making. A particular focus will be the introduction of a concept of endurance to these debates. Informed by Deleuze’s writing on temporality and exhaustion, and drawing on insights from a range of ideas from across the philosophical and social sciences, I will examine the ways in which ‘enduring’ relates to multiple temporalities, power dynamics and the labour of care and framing endurance as a socio-material process important both to the generation and sustenance of urban lives.

19:00 –20:00 • Reception

20:00 • Conference Dinner


Freitag 21.3.2025, Vortragssaal, LEIZA, Mainz

Session: Approaching Assemblages • Chair: Sarah Bockmeyer

09:00–09:30 • Martin R. Renger • Social Assemblages – Nothing Else Matters? Neolithisation in Southwest Asia as a Process of Becoming

During the great transformation to sedentary life in Southwest Asia early settling communities faced various challenges. Communitization or becoming a social settlement collective is one of them. In this becoming of communities, architecture is not only a mirror or an expression of these emerging communities but is a modus of them – in other words, architecture, and in particular early Neolithic monumental architecture, plays a crucial role in the formation of collectivity in these communities. It will be shown that the process of becoming a community initially involves an immaterial-intellectual step, namely in the necessity of asserting and fixing a unity where there is actually no unity, as collectives are heterogeneous, changeable and fluid. And because this imagined unity is counterfactual, it is dependent on systems of meaning and materiality, not least on architectures, artifacts and other forms of materialization such as symbols. In this context, the material dimension plays an integral role in the relational meshwork of human and non-material entities. It frames and is framed at the same time, it shapes and is shaped, it mobilises and is mobilised and is thus an involved – both affecting and affected – part of the process of becoming social assemblages. In this light, the Southwest Asian Neolithisation and early Neolithic can be conceived, understood and analysed as a process of becoming.

09:30–10:00 • Stefan Schreiber • Zusammenleben als Soziale Ökologie: Soziale Gefüge als emergente Effekte des sozialen Weltens

Living Together as Social Ecology: Social Assemblages as Emergent Effects of Social Worlding

Betrachtet man das Zusammenleben vor dem Hintergrund des Neuen Materialismus, ergeben sich deutlich andere Perspektiven. Der Neue Materialismus fokussiert auf Fluidität, Relationalität und Offenheit der Welt, die sich fortschreitend weiter konfiguriert. Dies geschieht durch grenzziehende, intra-aktive Praktiken (Barad), die ich in meinem Vortrag mit dem Prozess des Weltens (Haraway) zusammenbringen möchte. Dieses Welten ist immer zugleich grenzziehend und transversal, semiotisch und materiell. Als emergente Effekte entfalten sich hieraus mehr-oder-weniger-menschliche Akteur*innen, die sich in menschlichen, tierischen, pflanzlichen und dinglichen Instanzen materialisieren. Im wechselseitigen Welten bilden sich daraus komplexe Soziale Gefüge bzw. assemblages (Deleuze & Guattari, DeLanda).

In meinem Vortrag möchte ich Soziale Gefüge als theoretisches Angebot skizzieren, um Modi des Zusammenlebens zu thematisieren, die bisher als Gesellschaft, Gemeinschaft oder auch als Individuen verstanden wurden. Das Zusammenleben als ein „Miteinander-Werden“ Sozialer Gefüge mittels ihres Weltens möchte ich im Anschluss als Soziale Ökologie verstehen. Mein Beitrag soll als erster Schritt für einen integrativen sozialarchäologischen Ansatz dienen, der die Ansätze des Neuen Materialismus auslotet, statt sich auf Strukturanalysen zu beschränken. Dieser soll für die archäologische Forschung fruchtbar gemacht werden.

10:00–10:30 • Alessandra Manzini, Anne Hertzog, Stefano Biagetti • New Materialism in Cross-cultural Ethno-Archaeology: A Reframing of Matter and Agency Applied to Spiritual Landscapes

Drawing on the ongoing SPIRAL project, which aims to develop a cross-cultural study of spiritual landscapes and ‘sacred forest’ management practices, this paper seeks to contribute to the debate by highlighting key challenges identified during the methodological design process at the intersection of cross-cultural studies and new materialist approaches to empirical research. Following Haraway’s invitation to “stay with the troubles,” the paper addresses epistemological issues encountered when working with eHRAF archives. By examining regularities and behavioral patterns through quantitative methods, cross-cultural studies challenge the particularistic interpretations often employed by archaeologists. These studies seek to build a general model based on common patterns identified in ethnographically studied societies across various geographical contexts available in eHRAF. This paper operates at the intersection of quantitative ethnoarchaeological big data analysis and qualitative fieldwork methods, aiming for internal consistency in the research design.

Sacred forests, often considered merely cultural symbols or ecological spaces, are reinterpreted through the lens of new materialism as vibrant, active agents in human-nonhuman interactions, shaped by diverse cosmologies and spiritual practices. The term “sacred,” as referenced in the eHRAF literature, is particularly problematic due to its dualistic semantic connotations, which risks oversimplifying the complex relationships between humans and nonhuman entities. A multi-species approach and performative fieldwork will be applied to the study of forest management in selected case studies based on the premise that humans are part of a broader community of beings, which includes not only plants and animals but also ecological elements. This perspective challenges anthropocentric views of forest management by emphasizing the agency of nonhuman actors. Such a reframing raises new questions about the agency of things and the evolving entanglements between humans, nonhumans, and the material world, both in past and present landscapes.

Key questions that emerge from this transformative approach include: can past ethnographic records be reinterpreted through the lens of new materialism? How can we address anthropocentric biases in existing interpretations? What are the main differences and similarities between traditional material culture studies and those based on new materialism? And, how might the interpretation of sacred forest management practices and spiritual landscapes evolve through this new perspective?

10:30–11:00 • Coffee Break

11:00–11:30 • Sabine Neumann • Mehr als Kunst – Neomaterialistische Perspektiven für die Klassische Archäologie

Der Begriff der Kunst spielt in der Klassischen Archäologie nach wie vor eine wichtige Rolle im Selbstverständnis des Faches. Begründet in der kunsttheoretischen Debatte des 18. Jahrhunderts, in der die Eigensphäre der Kunst als eine allen äußeren Zwecken enthobene deklariert wurde, hat er sich im Lauf der Zeit innerhalb des Faches mehrfach gewandelt und Eingang in Theorieverständnis und Methodik gefunden. Im Rahmen dieses Vortrags wird gefragt, wie das durch den neuen Materialismus angeregte, veränderte Dingverständnis die klassisch-archäologische Forschung und ihren Kunstbegriff beeinflussen kann. Posthumanistische, neomaterialistische Perspektiven bieten die Möglichkeit einer offeneren, dynamischen Interpretation, die nicht auf menschliche Akteur*innen allein festgelegt ist. Ferner stellen sie traditionell westliche Denkweisen und Dichotomien in Frage, indem sie neue Formen des Zusammenlebens der Menschen in ihrer Umwelt und mit den sie umgebenden Dingen ausloten. In Hinblick auf die antike Kunst soll daher untersucht werden, inwieweit ein Kunstwerk nicht mehr durch innere ästhetische Eigenschaften, Authentizität oder die Person des Künstlers definiert, sondern durch Relationen mit seiner Umwelt hervorgebracht werden kann.

11:30–12:00 • Martin Nadarzinski • Die Museumssammlung zwischen Ruine und Assemblage. Neuer Materialismus und (post-)koloniale Provenienzforschung

Die Frage nach der Herkunft der Dinge in ethnographischen Sammlungen hat seit mehreren Jahren Konjunktur. Hierbei steht die Frage im Raum, wie mit dem kolonialen Erbe in deutschsprachigen Museen umzugehen ist, welches sich auch über die ehemaligen „völkerkundlichen“ Beständen hinaus in anderen Sammlungsinstitutionen finden lässt. 

Mit diesem Hintergrund beschäftigt sich der geplante Vortrag mit den theoretischen Besonderheiten der Untersuchung des kolonialen Erbes in ethnographischen Museumsammlungen. Innerhalb dieses Feldes liegt der Fokus oftmals auf einzelne Objekte oder gleichartige Konvolute. Demgegenüber stehen theoretische Ansätze, die die Museumsammlung als Netzwerk zwischen Menschen, Ding und Praxis versteht und analysiert, welche im Fokus des Vortrages stehen.

Um diese theoretischen Besonderheiten zu beschreiben, wird die Geschichte der ethnographischen Sammlung des Badischen Landesmuseums als deskriptiver Rahmen herangezogen. 

Diese Sammlung, begründet als Teil der großherzoglichen vereinigten Sammlung für Altertums- und Völkerkunde und 1919 in das neu gegründete Badische Landesmuseum übergegangen firmiert heute noch in Überresten in der Sammlung „außereuropäische Kulturen“ bzw. „WeltKultur/GlobalCulture“ in Karlsruhe. 

Die Besonderheiten dieser Transformationsprozesse stellen den Rahmen da, indem Auswirkungen der theoretischen Perspektive des neuen Materialismus auf das Phänomen der Museumssammlung untersucht und vorgestellt werden.

12:00–13:30Lunch

Session: (Dis)Entangling Objects and Categories • Chair: Sabine Neumann

13:30–14:00 • Merlijn Veltman • (Dis-)Assembling Typologies? Revisiting the “Dolphin-Amphora Earrings” from Funerary Contexts

The “dolphin-amphora earrings”, found in funerary contexts in Bactria (Central Asia) from 200 BCE – 100 CE, have traditionally been considered through cultural and processual lenses. They have become part of an archaeological typology, in which they are grouped together on the basis of their morphological features (i.e. an amphora-like body with dolphin handles). This has had major repercussions for their interpretation in funerary contexts. Invariably, the earrings are placed into representational categories: “Greek” or “elite”. The burials they are found in are interpreted through similar frameworks. However, typologies are only one part of the assemblage that is each distinct “dolphin-amphora earring”. Crucial differences in the form of each dolphin-amphora earring point towards diachronic relations pervading their assemblages.

This paper addresses the problematic nature of the restrictive typology imprinted upon these earrings. Using assemblage thought as a theoretical framework, this contribution will revisit the earrings as assemblages, laying bare the multiple-object that is the “dolphin-amphora earring”. From this perspective, novel, diachronic interpretations of the earrings as more-than-representative and more-than-typological emerge that provide invaluable knowledge of the earrings’ funerary context and Bactria as a whole in 200 BCE – 100 CE.

14:00–14:30 • Matthias Grawehr • My Precious, or, The Power of Beloved Things

The world of people and the world of things are bound by reciprocal forces. People affect things, but things also affect people.

In my presentation, I will address two objects that once held special meaning to individuals. It is well understood that people can imbue things with sentimental value; objects can connect humans with distant pasts, people, or places, opening up worlds of memories. Emotional bonds are thus an important dimension of human-thing relationships. Fortunately, there are often indications of past emotional connections. Through inscribing, continuous use, patching and above all, curation, humans take possession of things and make these emotional attachments intellegible to posterity. Conversely, beloved objects can also impact human lives. In my presentation, I will detail two Athenian vases were once given as gifts, as revealed by incised inscriptions. These objects have also been curated and were presumably cherished. Their respective decorations convey stereotypical concepts of the life of a young Athenian woman, challenging the recipient to emulate this vision of an ideal biography.

14:30–15:00 • Monika Zöller-Engelhardt • Of Categories and Concepts – New Approaches to ‘Small Finds’ from Ancient Egypt

So-called ’small finds‘ are an intrinsically interesting category of archaeological objects: the term usually covers small objects such as scarabs, figurines or tools – but reaches its limits with object types such as pottery and parts of pottery, small fragments of larger objects, reused items, micro debris or unworked objects that have evidently been used by humans. Researchers in the field of Ancient Studies make many prior assumptions about the ‘small finds’ found in excavations and museums, and have so far attempted to typologise them according to traditional classifications such as location, material or form, and to assign a basic function to each of them, often mixing formal criteria and interpretation. This approach is clearly inadequate. It leads to subjective, etic and ultimately biased classifications that obstruct our view of connections and functional interdependencies of ‘small finds’.

The presentation will first explore the scientific history of the classification of ‘small finds’ and will then propose a new definition. Taking the category of ancient Egyptian wooden funerary models as an example, focusing on figures and model tools, traditional Egyptological approaches to establishing classifications will be deconstructed to develop alternative concepts, drawing on the autological and heterological dimensions of “figures of aesthetic reflection” (Gerok-Reiter/Robert 2022), but extending the notions to include considerations of affordance and New Materialism. This change of perspective aims to break down the categorisation patterns imposed by modern research and to gain new insights into the functional diversity of these objects.

14:30–15:00 • Final Discussion

15:00 • Optional Excursion • Isis and Magna Mater Sanctuary


Venue
Leibniz-Zentrum für Archäologie
Ludwig-Lindenschmit-Forum 1
55116 Mainz
Germany

Organization
Sarah Bockmeyer (EXC ROOTS, Kiel)
Sabine Neumann (MCAW, Marburg)
Stefan Schreiber (LEIZA, Mainz)

Registration
service@leiza.de until 10th March 2025

Contact
If you have questions or comments?
E-mail: stefan.schreiber[ät]leiza.de

Programm „From Different Worlds – Interdisziplinäre Kombination und Adaption von Theorien in den Altertumswissenschaften“

Gemeinsamer Workshop des Instituts für Altertumswissenschaften, des Profilbereichs „40,000 Years of Human Challenges“ der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und der Workshop-Reihe der AG TidA „Theory in Practice“

Ort: Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Fakultätssaal im 7. Stock der Naturwissenschaftlichen Fakultät, Johann-Joachim-Becher-Weg 21 (Campusgelände), 55128 Mainz
Datum: 31.01.–01.02.2025
Organisation:
Dr. Monika Zöller-Engelhardt (IAW | Ägyptologie, JGU Mainz)
Dr. Sarah Scoppie (LAD Regierungspräsidium Stuttgart)
Dr. Stefan Schreiber (Theoretische Archäologie, LEIZA, Mainz)
Tina Beck, M.A. (Ägyptologie, FU Berlin)

Der Workshop ist an ein Barcamp-Format angelehnt: Am ersten Workshop-Tag führt eine Keynote-Lecture in die Thematik ein, danach werden in 20-minütigen Vorträgen Herangehensweisen, bestpractice-Beispiele sowie Herausforderungen in der theoriegeleiteten Forschung präsentiert und mit dem Plenum diskutiert. Am zweiten Workshop-Tag bestimmen die Teilnehmerinnen selbst, zu welchen Aspekten vertiefender Input und Austausch gewünscht wird – in Kleingruppen werden dann konkrete Ansätze diskutiert, weiterentwickelt und „erprobt“. Am Nachmittag des zweiten Tages führen die Teilnehmerinnen ihre Ergebnisse wieder zusammen.
Wir laden alle Interessierten hierzu herzlich ein und insbesondere den zweiten Workshop-Tag aktiv mitzugestalten.

Die Teilnahme-Anmeldung ist bis 26.01.2025 per Email möglich: differentworlds@uni-mainz.de


PROGRAMM

Freitag, 31.01.2025

09:00 • Ankommen und Kaffee
09:30 • Begrüßung & Einleitung
09:45 • Keynote • Kerstin P. Hofmann (Frankfurt a.M.) • Kreatives ÜberSetzen? Zur (Weiter-)Entwicklung von Theorien und Konzepten aus Sicht einer prähistorischen Archäologin
10:30 • Raphael Berger (Basel) • Soziale Welten: Verflechten von Netzwerk-Theorien à la Posthumanismus
11:00 • Kaffeepause 
11:30 Mirja Biehl (Marburg)Grenzen und Potential der Anwendung von Theorien der Cognitive Science of Religion auf die Griechische Religion
12:00 Matthieu Götz (Berlin) Vernetzte Bilder
12:30Susanne Deicher (Wismar) Auerbachs Keller. Über die unerwartete Aktualität eines literaturwissenschaftlichen Ansatzes der 1930er Jahre für die Ägyptologie
13:00 • Mittagspause
14:30 Sabine Neumann (Marburg) Das Konzept des Social Imaginary und seine Adaption für die Untersuchung von antiker Religion
15:00 Johannes Bach (Würzburg) Geschichts- und Historiographietheorien als Chance für die Assyriologie
15:30 • Kaffeepause
16:00 Shumon T. Hussain (Köln) (Kybernetische) Makro-Archäologie der Technosphäre(n)
16:30 Stefan Schreiber (Mainz) Parasitäre Theorien oder interdisziplinäre Solidarität? Zu Mikropolitiken „archäologischer“ Theoriearbeit im Rahmen einer Eigenbeobachtung
17:00 Abschluss und Organisation der Barcamps

Samstag, 01.02.2025

09:30Ankommen und Kaffee
10:00Begrüßung, Einleitung und Organisation der Barcamps
10:20Spotlight 1: Monika Zöller-Engelhardt (Mainz)
10:30Barcamp-Runde 1
12:00Mittagspause
13:30Spotlight 2: Tina Beck (Berlin)
13:40Barcamp-Runde 2
15:10Vorstellung der Ergebnisse der Barcamp-Runden
15:45Abschlussdiskussion


ABSTRACTS

Kreatives ÜberSetzen? Zur (Weiter-)Entwicklung von Theorien und Konzepten aus Sicht einer prähistorischen Archäologin

Kerstin P. Hofmann, Römisch-Germanische Kommission Frankfurt a. M.

Aus Perspektive einer in verschiedenen Verbundforschungsprojekten arbeitenden prähistorischen Archäologin soll in diesem Beitrag der Umgang mit Theorien und Konzepten und ihre (Weiter-)Entwicklung thematisiert werden. Hierfür wird zunächst diskutiert, inwiefern wir es in den Altertumswissenschaften mit zahlreichen „different worlds“ nicht nur in Bezug auf Disziplinen zu tun haben; wobei die Fragen, was eigentlich fremd, anders und eigen bedeutet und vergleichbar ist, eine wichtige Rolle spielen. Danach soll der Blick auf Theorien und ihre Mobilität gelenkt werden: Was wird hierunter alles verstanden und was zeichnet diese aus? Anschließend werden verschiedene Arten des Transfers und der Transformation von Theorien sowie mögliche Ansätze, Vorgehensweisen und Hilfsmittel vorgestellt. Hierbei stellt sich auch immer wieder die Frage, wieviel Kreativität und Innovation, wieviel Reflexion, Prüfung und Rückbindung bzw. Einbettung gewünscht ist bzw. als notwendig betrachtet wird. Sich zwischen Universalität und Diversität bewegend wird dabei für ein wissensgeschichtlich fundiertes und dialogisches ÜberSetzen von Theorien und Konzepten plädiert.


Soziale Welten: Verflechten von Netzwerk-Theorien à la Posthumanismus 

Raphael Berger, Universität Basel

In den vergangenen Jahrzehnten sind in verschiedenen Disziplinen Netzwerkideen entwickelt und auf unterschiedliche Weisen angewandt worden. Einige dieser Ideen sind explizit posthumanistisch, dezentrieren den Menschen und können dadurch den Fokus auf Dinge, die Quellen der prähistorischen Archäologie, verschieben. Im Rahmen meiner Dissertation werde ich Ideen der Akteur*innen-Netzwerk-Theorie1 mit sog. Sozialen Netzwerkanalysen verflechten und dadurch eine konkrete Methodik entwickeln, um Soziale Welten in der unteren Thunerseeregion und über die Alpen hinweg zu untersuchen. So sollen Fragen nach sozialer Zugehörigkeit, Formen sozialer Ungleichheit und Differenzierung in der Siedlungs- und Bestattungsweise aus einer posthumanistischen Perspektive diskutiert und zentrale Begriffe für die prähistorische Archäologie neu konzeptualisiert werden. 

Das vom SNF geförderte Projekt startet im Oktober 2024 und im Rahmen des Workshops sollen erste konzeptuelle Entwürfe zur Diskussion gestellt werden.

  1. Der Begriff des Akteur*innen-Netzwerks wurde explizit für die Benennung archäologischer Akteur*innen entwickelt (Publikation in Vorbereitung) ↩︎

Grenzen und Potential der Anwendung von Theorien der Cognitive Science of Religion auf die Griechische Religion

Mirja Biehl, Philipps-Universität Marburg

In meinem Vortrag will ich kritisch hinterfragen, inwieweit bestimmte Theorien aus der Cognitive Science of Religion (CSR) auf die Forschung zu griechischer Religion, spezifischer auch zum Verhältnis von Natur und Kult in der griechischen Religion als Teil meiner Dissertation in der Klassischen Archäologie angewendet werden können. Dabei soll untersucht werden ob Theorien wie Minimally counterintuitive concepts (MCI) und Hyperactive agency detection (HAD) überhaupt auf antike bzw. griechische Religion (Heiligtümer, Kulte und Gottheiten) übertragen werden können, ob sie einen Beitrag zum Verständnis antiker Religion und der Erklärung überlieferter Phänomene liefern und auch ob es nötig bzw. möglich ist Veränderungen, Erweiterungen oder Einschränkungen der Modelle und Theorien spezifisch für antike bzw. griechische Religion vorzunehmen.


Vernetzte Bilder

Matthieu Götz, Freie Universität Berlin

Anhand des Entwurfs für eine Methode zur Rekonstruktion teilweise zerstörter Malereien in einem kürzlich freigelegten Mastabagrab in Dahschur/Ägypten soll gezeigt werden, dass sich strukturalistische Methoden für die Archäologie produktiv nutzen lassen. Anders als bei der von Claude Lévi-Strauss für die Sozialanthropologie entwickelten Strukturalen Anthropologie – die in den 1970er und 1990er Jahren versuchsweise auf archäologische Untersuchungen übertragen wurde – werden im hier vorgestellten Ansatz auch ontologische Analysen und spezifische (kulturelle) Verflechtungen berücksichtigt. Über die so erfolgte Einordnung der noch erhaltenen Malereien der Mastaba soll versucht werden, Aussagen über die nicht mehr vorhandenen Teile der Dekoration zu treffen.


Auerbachs Keller. Über die unerwartete Aktualität eines literaturwissenschaftlichen Ansatzes der 1930er Jahre für die Ägyptologie 

Susanne Deicher, Hochschule Wismar

Philippe Descolas Buch Les Formes du Visible. Une anthropologie de la figuration (2021) liegt Erich Auerbachs Aufsatz Figura (1938) titelgebend zugrunde. Unter „Figuration“ ist demnach nicht etwa das Gegenteil von abstrakter Kunst zu verstehen, sondern vielmehr eine aus dem antiken Konzept der ‚Gestalt‘ (Figura, Typos) entwickelte Kunst der Rhetorik und der „Figuraldeutung“ (Auerbach), aus der im Spätmittelalter ein Konzept des Kunstwerks als quasi-lebendiger, sprachbegabter Gestalt entstand. Die vier verschiedenen Typen einer „Ontologie“, die Descola in Par-delà nature et culture (2005) skizziert hatte, möchte der Autor aus den Kunstwerken der Kulturen der Welt deutend zurückgewinnen, wobei das Prinzip eines virtuellen Eigenlebens der Werke Beachtung findet.

Für die Ägyptologie ist dieser Entwurf einer Weltkunstgeschichte von großem Interesse. Mithilfe der von Descola vorgeschlagenen semiotischen Methodik kann, wie an einem Beispiel gezeigt werden soll, die im Fach lange hilfsweise als „Hieroglyphizität“ (H.W. Müller, Assmann, u.a.) etikettierte Sprachnähe vieler Kunstwerke präzise gefaßt und im Sinne einer Bildrhetorik gedeutet werden. 


Das Konzept des Social Imaginary und seine Adaption für die Untersuchung von antiker Religion 

Sabine Neumann, Marburger Centrum Antike Welt, Philipps-Universität Marburg

Wie lassen sich für eine multikulturell vorgestellte Antike Veränderungen in religiösen Praktiken und Vorstellungen in den sich wandelnden sozialen und historischen Gegebenheiten untersuchen? Wie verändern religiöse Akteur:innen durch ihr Handeln und speziell durch Institutionalisierungen ihre Gesellschaft(en)? Wie ‚konstruieren‘ wir, als heutige Forschende, antike Religion und produzieren dabei Prozesse der Orientalisierung im griechischen Kontext? 

In meinem Vortrag möchte ich das von dem Philosophen Cornelius Castoriadis geprägte Konzept des Social Imaginary vorstellen, um die fluide Natur antiker Religion zu beschreiben, indem über unidirektional gedachte Machtprozesse hinausgewiesen wird und stattdessen die kreativen Aspekte in interkulturellen Verflechtungen zwischen verschiedenen Kulturen und Gesellschaften erfasst werden. Das Imaginäre wird dabei als ein unabhängiger und konstitutiver Teil der sozialen Wirklichkeit vorgestellt und im Sinne Castoriadis’ als Hervorbringung von Sozialem verstanden. 


Geschichts- und Historiographietheorien als Chance für die Assyriologie

Johannes Bach, Julius-Maximilians-Universität Würzburg

In den mesopotamischen Altertumswissenschaften haben sich, nach dem Auslaufen der letzten größeren fachinternen Diskussion des Themas vor ca. 20 Jahren, theoretische Zugänge zu Geschichte und Geschichtsschreibung bisher nicht fest etablieren können. Bei der Betrachtung assyriologischer „Definitionen“ etwa von Geschichtsschreibung fällt auf, dass viele Forscher*Innen sich oft auf nur ein oder ein paar definierende Merkmal konzentrieren, und das anstehende Material entsprechend filtern. Ohne einen theoretisch-methodologischen Unterbau, zudem auch die selbstkritische Analyse des eigenen „Geschichtenschreibens“ gehören muss, bleiben solche subjektiv bis manchmal naiven Ansätze wenig ergiebig. Gleichfalls finden sich immer noch rekonstruktionistische Geschichtsansätze, ebenso wie ein nur geringes Bewusstsein für die Tropologie der darstellenden Sprache oder die problematische Projektion des modernzeitlichen „Kollektivsingulars“ Geschichte auf alteritäre antike Kulturen. Ich möchte eine Reihe von Theorieansätzen vorstellen, mit denen die Verhältnisse in der Assyriologie vielleicht nicht sofort grundlegend reformiert, aber hoffentlich kontinuierlich hin zu einer größeren Bewusstheit der Problematiken verändert werden können. 


(Kybernetische) Makro-Archäologie der Technosphäre(n)

Shumon T. Hussain, MESH – Multidisciplinary Environmental Studies in the Humanities & Institut für Ur- und Frühgeschichte, Universität zu Köln

Im Brennglas gegenwärtiger Anthropozän-Diagnosen geht in den letzten Jahren unter dem Stichwort „Technosphäre“ ein Gespenst umher. Dieses Gespenst, auch wenn es die archäologische Forschung bisher kaum tangiert hat, droht eingeübte Gewissheiten und Vorgehensweisen zur Erforschung von Langzeitentwicklungen technisch-materieller Welten und deren Relevanz – angeblich eine Kernkompetenz archäologischer Fächer – bis aufs Mark zu erschüttern, ja teilweise sogar ad absurdum zu führen. Das hat zwei wesentliche Gründe: zum einen wirft der „tiefenzeitlich-geologische“ Zuschnitt von Technosphären die Frage nach Scale, Scope und Stratigraphie radikal neu auf und fordert eine ernstgenommene „makroarchäologische“ Perspektivierung ein; zum anderen insinuiert das Konzept eine gewisse, wenn auch historisch-situierte „Fremdaktivität“ technisch-materieller Totalitäten und wirft so das Problem von Komplexität, Pfadabhängigkeit und Selbstorganisation neu auf. Für die Archäologie birgt diese Perspektivenverschiebung erhebliches transformatives Potenzial, verspricht aber gleichzeitig einen zentralen und genuin archäologischen Beitrag zu einem wesentlichen Thema unserer Zeit.


Parasitäre Theorien oder interdisziplinäre Solidarität? Zu Mikropolitiken „archäologischer“ Theoriearbeit im Rahmen einer Eigenbeobachtung

Stefan Schreiber, LEIZA Mainz

Meist treffen in Vorbereitung und Durchführung archäologischer Theoriearbeit Haltungen des disziplinär Defizitären (in der Archäologie könne nicht bewiesen, niemand befragt werden) auf Haltungen des eigenen Defizitären („Muss ich jetzt alle theoretischen Aspekte anderer Disziplinen kennen, wie soll ich das auch noch leisten?“). Um dieser Haltung zur Perfektion und Vollständigkeit entgegenzuwirken, möchte ich Theoriearbeit nicht als einen geplanten Entwurf einer konsistenten Theoriearchitektur beschreiben, sondern den Blick auf vielfältige Mikropolitiken ko-konstitutiver und kollaborativer Theoriearbeit lenken. Solchen Mikropolitiken folgen nicht immer logisch-rationalen Intentionen und Gründen sowie disziplinären Erfordernissen, sondern sind durchzogen von einem Feld wechselseitiger Entscheidungen, Stimmungen, Poetiken und Affekte unterschiedlicher Ko-Akteur*innen. Sie spannen ein Feld auf, das ich einerseits mit Michel Serres’ Figur des Parasitären, andererseits mit einer Haltung interdisziplinärer Solidarität umreißen möchte.

Programm „MATERIELLE PERSPEKTIVEN ZU ALTER & ALTERN IN DER ARCHÄOLOGIE“

Generiert mittels des Sektionstitels durch die KI Craiyon

Programm der Sektion der AG TidA auf der Verbandstagung des WSVA/MOVA/NWVA in Tübingen am 25.9.2023 (download als pdf), organisiert durch Stefan Schreiber, Martin Renger und Tina Beck

Materielle Perspektiven zu Alter & Altern in der Archäologie. Soziale & somatische Beziehungen zwischen Menschen & Dingen


Montag 25.9.2023, Uni Tübingen, Neue Aula, Raum 05

09:30–10:00 • Martin Renger, Tina Beck & Stefan Schreiber • Materielle Perspektiven zu Alter & Altern in der Archäologie. Eine Einführung

10:00–10:20 • Stefan Scheiber • Zusammen-Alt-Werden. Ontologische Überlegungen zu materiellen Biopolitiken des Alterns

10:20–10:30 • Diskussion

10:30–11:00Kaffeepause

11:00–11:20 • Brigitte Röder • Ein Forschungsfeld in Kinderschuhen: ältere Menschen in der Urgeschichte

11:20–11:30 • Diskussion

11:30–11:50 • Eva Stauch • Alt werden im Frühmittelalter

11:50–12:00 • Diskussion

12:00–12:20 • Karina Iwe • Vorstellungen zu Alter & Altern in der bei den skythenzeitlichen Reiternomaden – lässt sich hierzu überhaupt eine zuverlässige Aussage treffen?

12:20–12:30 • Diskussion

12:30–14:00Mittagspause

14:00–14:20 • Philipp Tollkühn • Alter als Thema in der musealen Bildung und Vermittlung

14:20–14:30 • Diskussion

14:30–15:30 • Tina Beck & Martin Renger • Spotlights und Debatten

15:30–16:00 • Kaffeepause

16:00–17:30 • Mitgliederversammlung der AG TidA


Abstracts

Zusammen-Alt-Werden. Ontologische Überlegungen zu materiellen Biopolitiken des Alterns
Stefan Scheiber

Alt werden ist nicht nur ein biologischer Vorgang, sondern durchzieht auch soziale, politische und kulturelle Bereiche des Lebens. In meinem Vortrag möchte ich all diese Bereiche verbinden und sie als Biopolitiken des Alterns verstehen. Zur Untersuchung solcher (antiken) Biopolitiken stelle ich einige ontologische Überlegungen in den Mittelpunkt. In Anlehnung an die Konzepte des ‚Anders-Werdens‘ bei Gilles Deleuze und Rosi Braidotti, sowie des ‚Gemeinsamen Werdens‘ bei Donna Haraway versuche ich, Altwerden als ‚Zusammen-Alt-Werden‘, als einen nichtlinearen Prozess aus multiplen Brüchen, Verflechtungen, Relationierungen und Materialisierungen zu konzeptualisieren. Dieser wird durch die jeweiligen zu historisierenden materiellen Biopolitiken gesteuert, mit denen über das eigene und fremde Leben, dessen Regulierung, Verbesserung, aber auch Kontrolle, Optimierung und Ausbeutung entschieden wird. Dabei umfassen Biopolitiken einerseits Mikropolitiken sozialer Praktiken, die zwischen einer Vielzahl von Akteuren performativ reproduziert werden. Andererseits werden sie auch durch die Makropolitik gesellschaftlicher Praktiken der Subjektivierung reproduziert. Es gilt daher, für eine Konzeption des ‚Zusammen-Alt-Werdens‘ den Blick auf eben jene Biopolitiken zu werfen, da durch sie erst gemeinsame Erfahrungen des erlebten Miteinander des Altwerdens möglich werden.

Ein Forschungsfeld in Kinderschuhen: ältere Menschen in der Urgeschichte
Brigitte Röder

‚Alter‘ und ‚Altern‘ sind keine biologischen Tatsachen, sondern werden stets kulturell gedeutet. Deshalb beginnt prähistorische Altersforschung hier und heute – und zwar mit einer Reflexion der lokalen und historischen Situierung dieser Konzepte und ihrem potentiellen Einfluss auf die archäologische Forschung. Diese Klärung ist umso wichtiger, als die rund 3 Millionen Jahre lange Urgeschichte mündliche Gesellschaften betrifft, die keine schriftlichen Selbstzeugnisse hinterlassen haben. Andernfalls besteht die Gefahr, Wissenslücken mit heutigen Erfahrungen, Altersbildern und -stereotypen zu füllen.

Den unmittelbarsten Zugang zu individuellen und kollektiven Lebensverhältnissen älterer Menschen in der Urgeschichte erlauben sterbliche Überreste, die von der Prähistorischen Anthropologie im Hinblick auf Alter, Geschlecht, Gesundheitszustand u.v.a.m. analysiert werden. Aufgrund methodischer Probleme bei der osteologischen Altersschätzung wurden das maximal erreichbare Lebensalter, die mittlere Lebenserwartung und der Anteil älterer Menschen bislang deutlich unterschätzt. Dank verbesserter methodischer Ansätze und neuer paläodemographischer Studien werden diese Fehleinschätzungen nun korrigiert.

Zwar liegen erst wenige Fallstudien vor, doch es zeichnet sich bereits ab, dass auch für die Urgeschichte mit vielfältigen Formen des ‚Älterwerdens‘ und des ‚Altseins‘ zu rechnen ist. Ausserdem verändert Altersforschung den Blick auf prähistorische Gemeinschaften. In der Folge entstehen neue Forschungsfragen – z. B. nach der Bedeutung älterer Menschen in mündlichen Gesellschaften für die Tradierung von kulturellem Wissen, im Hinblick auf ihre Rolle bei der Organisation des Lebensalltags sowie nach Sorgepraktiken und dem Generationenverhältnis. Auch wenn aufgrund der fragmentarischen Quellenlage manche Fragen nicht (restlos) beantwortet werden können, sind sie dennoch produktiv, weil sie ein komplexeres und damit auch realistischeres Bild von urgeschichtlichen Gemeinschaften generieren und zugleich eine Reflexion über ‚Alter(n) hier und heute‘ anregen.

Alt werden im Frühmittelalter
Eva Stauch

Individualität kann sich nur abzeichnen vor dem Hintergrund von Normen – also vor den in einer Gesellschaft üblichen Erwartungen und Verhaltensweisen. Der Vortrag unternimmt den Versuch, sich auf der Basis archäologischer Quellen an die im merowingerzeitlichen Süddeutschland geltenden Normen heranzutasten. Dabei stehen Normen des äußeren Erscheinungsbildes und Rollenerwartungen quellenbedingt im Vordergrund. Die Analyse von 1700 Erwachsenenbestattungen macht deutlich, in welchem Maß äußere Erscheinung und Rollenattribute an Geschlecht und Lebensalter der Bestatteten gebunden sind und eröffnet damit einen Blick auch auf die spezifische Situation alter Menschen. Die Studie offenbart das in der gemeinsamen Analyse archäologischer und anthropologischer Daten liegende Potential für sozial- und mentalitätsgeschichtliche Fragestellungen und eröffnet den Weg in eine archäologische Lebenslaufforschung.

Vorstellungen zu Alter & Altern in der bei den skythenzeitlichen Reiternomaden – lässt sich hierzu überhaupt eine zuverlässige Aussage treffen?
Karina Iwe

Eine Auseinandersetzung mit skythenzeitlichen Reiternomaden im eurasischen Steppengürtel, und insbesondere mit der Pazyryk-Kultur, offenbart eine große materielle Bandbreite. Die organische Erhaltung in den Gräbern Südsibiriens beeindruckt sehr, doch fällt es schwer, trotz dieser bemerkenswerten Nachweise Rückschlüsse zu Konzepten und Vorstellungen von Altern und Alter bei den nomadisch geprägten Verbänden zu ziehen. Hier gilt es zu prüfen, welche Indizien Hinweise geben könnten.

Ein weiterer Aspekt zum Thema Alter & Altern sind Visualisierungen, die in Museen oder auch Publikationen präsentiert werden. Es sind im Bereich der Reiternomaden v.a. kraftstrotzende Darstellungen von Kriegern zu Pferden oder auch Männer der Elite mit ihrer reich bestückten Kleidung. Die Zeichnung des Mannes aus Aržan 2 (Tuva) soll näher vorgestellt werden. Eine mikroskopische Untersuchung seiner Knochen ergab Veränderungen, die typisch für Prostatakrebs sind. Und trotzdem zeigt die Visualisierung den Mann in einer Weise, die keine Rückschlüsse auf das Leiden bzw. die Gebrechlichkeit zulässt. In diesem Abschnitt soll der Frage nachgegangen werden, ob das Altern und damit einhergehende körperliche Einschränkungen Eingang in Visualisierungen finden. Der Beitrag dient der Annäherung an das Thema Alter & Altern.

Alter als Thema in der musealen Bildung und Vermittlung
Philipp Tollkühn

Ein vollbärtiger Mann mit gräulichem langen Haar trägt eine Hirschgeweihmaske auf dem Kopf; ein ebenfalls vollbärtiger, grauhaariger Mann mit tiefen Falten im Gesicht formt eine Frauenstatuette – Museale Rekonstruktionen erzeugen und verfestigen Vorstellungen über die Vergangenheit bei Besucher*innen. Gleichzeitig sind sie auch Ausdruck dessen, wie sich Kurator*innen die Vergangenheit vorstellen. Im Haus Bastian – Zentrum für kulturelle Bildung der Staatlichen Museen zu Berlin wird ein anderes Konzept verfolgt. Das eigens konzipierten Überthema (Verstärkerthema) mit dem Titel „Was bist Du, Alter?“ im Jahr 2020 bot Besucher*innen Impulse und Fragen zum Thema Alter an, die diese dann mit künstlerischen Methoden eigenkreativ bearbeiten konnten. Es entstanden individuelle Reflexions- und Erkenntnisgewinne, die wiederum das Potential besitzen, wertvolle Impulse für die wissenschaftliche Betrachtung des Materials zu liefern. Im Vortrag wird das Konzept des Verstärkerthemas und der künstlerisch-praktischen Vermittlungsmethoden vorgestellt sowie die Ergebnisse und deren mögliche Nutzbarkeit in der Archäologie diskutiert.

Online-Tagung „KATEGORIENBILDUNG UND DANN? KOMPLEXITÄT, WIDERSPRÜCHLICHKEIT UND VIELFALT ARCHÄOLOGISCH BEGREIFEN“

Gemeinsam mit der AG Geschlechterforschung wird die AG Tida am 5.–6.4.2022 zu „Kategorienbildung und dann? Komplexität, Widersprüchlichkeit und Vielfalt archäologisch begreifen“  digital via ZOOM tagen. Nach Verschiebungen der Altertumsverbandstagungen aufgrund von Corona hat sich die Tagungsorganisation entschieden, eine unabhängige Online-Tagung durchzuführen. Bis zum 31.3.2022 wird dafür um Rückmeldung der Teilnahme unter Kategorienbildung2022@gmx.net gebeten. Die Teilnahme ist kostenlos. Organisiert wird die Tagung von Hanna Jegge, Jana Esther Fries und Sophie-Marie Rotermund.

Den Flyer mit dem Einladungstext findet Ihr hier:

Die Abstracts könnt ihr im Abstract-Heft einsehen und herunterladen:

Programm „Kategorienbildung und dann? Komplexität, Widersprüchlichkeit und Vielfalt archäologisch begreifen“

Gemeinsame Session der AG Geschlechterforschung und der Theorien in der Archäologie auf der Verbandstagung des MOVA und WSVA in Jena 4.-7.04.2022

Organisiert durch: Hanna Jegge, Jana Esther Fries und Sophie-Marie Rotermund

Tag 1 Nachmittag

14.00 – 15.30 Uhr 2 Input Vorträge (á 20 min.)

  • Hanna Jegge • Begrüßung
  • Sophie Rotermund, Jana Esther Fries • Kategorienbildung und dann?
  • Claudia Maria Melisch • Prinzessin von Berlin-Britz

16.00-17.30 Uhr World Café:
Vom Nutzen und der Unvermeidlichkeit von Kategorien

Tag 2 Vormittag

8.30 – 10.00 Uhr 3 Input Vorträge (á 20 min.)

  • Michaela Helmbrecht • Komplexität, Widersprüchlichkeit und Vielfalt archäologisch begreifen – und sprachlich umsetzen. Gedanken einer Sprachfetischistin
  • Stefan Schreiber • Queere Geschlechter – relationale Subjekte? (Warum) Sind Geschlechter dual resilienter?
  • Eleonore Pape • Grenzen traditioneller und Potentiale revidierter Geschlechtsbestimmungsmethoden für die Interpretation von Gender anhand prähistorischer Bestattungen

10.30-12-30 Uhr World Café:
Wieso Kategorien unser Denken begrenzen

Tag 2 Nachmittag

14.00 – 15.30 Uhr 2 Input Vorträge (á 20 min.)

  • Daniela Nordholz • Identitäten (gender und mehr) im Spätpaläolithikum und Mesolithikum
  • Sonja Grimm, Daniel Gross • Göttinnen und Jäger – Genderdebatte und Stereotype in der Wildbeuter-Archäologie (digital)
  • Philipp Tollkühn • Männliche Hofbesitzer in der Bandkeramik?!

16.00 – 17.30 Uhr World Café:
Komplexität begreifen – aber wie? Für einen besseren Umgang mit Kategorien

Download des Programms und der Abstracts hier

Programm „Kategorienbildung und dann? Komplexität, Widersprüchlichkeit und Vielfalt archäologisch begreifen“ weiterlesen

Programm der Sektion „Mensch – Körper – Tod. Der Umgang mit menschlichen Überresten im Neolithikum“

Am 02.-04.4.2019 veranstalten wir auf der Tagung des West- und Süddeutsche Verbandes für Altertumsforschung (WSVA) und des Mittel- und Ostdeutschen Verbandes für Altertumsforschung (MOVA) gemeinsam mit der AG Neolithikum eine (vor allem) zeitspezifische Sektion. Thema ist dieses Mal „Mensch – Körper – Tod. Der Umgang mit menschlichen Überresten im Neolithikum“.

Programm (auch hier zum downloaden)

Dienstag, den 02.04.2019

10:00 – 12:30 Uhr • Mitgliederversammlung der AG TidA

12:30 Uhr • Mittagspause

14:00 Uhr • Nadia Balkowski, Kerstin P. Hofmann, Isabel Hohle, Nils Müller-Scheeßel, Almut Schülke, Begrüßung und Einleitung (Organisatorisches und Inhaltliches)
14:50 Uhr • Ulrich Veit, Jenseits von Historismus und Anthropologie: Überlegungen zu einem kulturtheoretischen Rahmen für das Studium neolithischer Praktiken der Totenbehandlung

15:30 Uhr • Kaffeepause

16:00 Uhr • Heidi Peter-Röcher, Gewalt an Lebenden – Gewalt an Toten: zu Kontexten und Interpretationsmöglichkeiten menschlicher Überreste

Mittwoch, den 03.04.2019

09:00 Uhr • Franziska Holz, Die Abgrenzung prä- und perimortaler knöcherner Verletzungen von postmortalen Defekten – illustriert an ausgewählten Schädeln aus dem Beinhaus von St. Lubentius (Limburg-Dietkirchen)

10:00 Uhr • Kaffeepause

10:30 Uhr • Franz Pieler, Maria Teschler-Nicola, Asparn/Schletz: Archäologische und anthropologische Bestandsaufnahme und Ausblick
11:10 Uhr • Johanna Ritter, „Wo sind all die Toten hin?“ Theorien und Konzepte zum bandkeramischen Bestattungswesen in Hessen
11:50 Uhr • Joachim Pechtl, Vielfalt in Leben und Tod – linienbandkeramische Bestattungskollektive in Südbayern

12:30 Uhr • Mittagspause

14.00 Uhr • Nils Müller-Scheeßel, Ivan Cheben, Zuzana Hukelova, Martin Furholt, Kopflose Skelette und aufgebahrte Leichen: Die Toten der bandkeramischen Siedlung von Vráble/Südwestslowakei im Vergleich mit gleichzeitigen Kollektiven
14:40 Uhr • Postersession:
Benjamin Spies, Eine Menschenzahnkette der jüngeren Bandkeramik aus Mainfranken
Julia Hahn, Wie tickten die Taubertaler? Das schnurkeramische Gräberfeld Markelsheim-Fluräcker im regionalen Vergleich aus anthropologischer Sicht

15:30 Uhr • Kaffeepause

16:00 Uhr • Alexander Gramsch, Birgit Großkopf, Das Itinerarium des menschlichen Körpers. Eine interdisziplinäre Spurensuche

Donnerstag, den 04.04.2019

09:20 Uhr • Stefan Schreiber, Sabine Neumann, Vera Egbers, “I like to keep my archaeology dead”. Entfremdung und “Othering” der Vergangenheit als ethisches Problem

10:00 Uhr • Kaffeepause

10:30 Uhr • Sara Schiesberg, Christoph Rinne, Knochen – Teilverband – Skelett. Neue Untersuchungsergebnisse und interkulturell vergleichende Überlegungen zum Totenritual kollektiv bestattender Populationen
11:10 Uhr • Christoph Steinmann, Artikulierte und disartikulierte menschliche Überreste in der Mecklenburgischen Megalithik
11:50 Uhr • Mitgliederversammlung der AG Neolithikum

12:30 Uhr • Mittagspause

14:00 Uhr • Torsten Schunke, Der Umgang mit den Ahnen bei Salzmünde, Saalekreis – Die Umbettung eines Kollektivgrabes der Bernburger Kultur und nachfolgende Eingriffe in den Befund
14:30 Uhr • Martin Nadler, Gedanken zu den sog. Silobestattungen der Münchshöfener und Michelsberger Kultur
15:00 Uhr • Rouven Turck, Niels Bleicher, Leben und Sterben auf dem Abfallhaufen? Menschliche Skelettreste in Jungsteinzeitlichen Seeufersiedlungen (ZH-Opéra)?

15:30 Uhr • Kaffeepause

16:00 Uhr • Clara Drummer, Grabhandlungen oder Handlungen am Grab? Die Bedeutung schnurkeramischer Scherben und unterschiedlicher Bestattungskonzepte am Beispiel des Galeriegrabes Altendorf, Lkr. Kassel

16:40 Uhr • Abschlussdiskussion

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CE-TAG 2018 „The Production of Space and Landscape“ – 8.-9. Oktober 2018

Vom 8. bis 9. Oktober 2018 findet an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg die  5. Konferenz der ‚Central European Theoretical Archaeology Group‘ zum Thema ‚The Production of Space and Landscape‚ statt.

Conference venue: Haus zur Lieben Hand, Löwenstraße 16, 79098 Freiburg, Germany

Organizing committee: Michael Kempf and Margaux Depaermentier, Archaeological
Institute, Dep. Early Medieval and Medieval Archaeology, University of Freiburg.

Registration fee: €20 (payable upon arrival at the conference venue)

Conference language: The official language of the conference is English.

Programme (auch als downloadbares pdf sowie mit abstracts):

Monday, 8th October 2018

10:15 Registration

10:45 Conference Opening

11:00 Keynote Lecture: Moving in space and time – Thomas Meier

12:00 Lunch Break

1. Concepts and Cognition

13:30 Spaces and Places. A Foucaultian inspired theoretical commentary – Martin Renger, Stephanie Merten

13:50 Landscape, spacing and the modern megalithic thinking – Karolína Pauknerová

14:10 Is it Greek? Reconsidering social space in Ai Khanum – Artur Ribeiro, Milinda Hoo

14:30 Virgil and the production of ‚mixed‘ landscape: surroundings of
Taranto in Georgics (4.125-140) – Francesca Boldrer

14:50 Coffee Break

15:10 „Was Gott durch einen Berg getrennt hat“ … Boundaries as practice
and phenomenon of attribution – Alexander Gramsch

15:30 Physical versus cognitive maps in modeling hunter-gatherers spatial
behavior: The case of Late Paleolithic groups in the eastern part of
the North European Plain – Aleksandr Diachenko, Iwona Sobkowiak-Tabaka

15:50 Landscape Marking in the Ulúa Iconographic Tradition – Kathryn M. Hudson, John S. Henderson

16:10 Mapping the Invisible Landscape – Miguel Costa

16:30 General Discussion
17:00 Wine reception and Apéro dînatoire – Venue: Archaeological Institute, Dep. Prehistoric Archaeology, Early Medieval and Medieval Archaeology, Belfortstrasse 22, 79098 Freiburg – Inner Courtyard.

Tuesday, 9th October 2018
2. Tools and Application

9:00 “Invisible scenarios, creating space in buried context. Experiences,
limits and perspectives” – Fabiana Battistin

9:20 Modelling Mesopotamia – The production of emerging power
relations in an irrigated landscape – Maurits W. Ertsen

9:40 Testing methods for identifying boundaries in archaeology – Irmela Herzog

10:00 Errands for erratics: modelling and explaining megalithic spacing on
glacial moraines – Eva Rosenstock, Marcus Groß

10:20 Coffee Break

10:40 Diffusing archaeological space – Matthias Kucera

11:00 “The use of Space Syntax for studying buried cities: the case of the
Roman town of Falerii Novi (IT)”
Fabiana Battistin

11:20 Urban kinaesthetics – movement in constructed space – Monika Baumanova

11:40 On the orientation patterns of the Central European Neolithic circular
enclosures according to geographical regions – Judit P. Barna, Emília Pásztor, Jaromír Kovárník, István Eke

12:00 Lunch Break

13:30 On the Significance of Landscape in Minoan Archaeology – Sebastian Adlung

13:50 On the way to the mountains – Relation between the lowland and
piedmont areas in the Late Bronze Age – Anna Augustinová

14:10 An Iron Age liminal landscape on the Swabian Jura, SW Germany – Jan Johannes Ahlrichs

14:30 Coffee Break

14:50 The fragmentation of landscape – Early Medieval land-use strategies
and settlement continuity in the Upper Rhine Valley – Michael Kempf

15:10 Societies, space and structures – Susanne Brather-Walter

15:30 General Discussion

16:00 End of Meeting

Programm der Sektion „(Un)Sichere Geschichte(n): Archäologie und (Post)Faktizität“

Am 20.-21.3. veranstalten wir auf der Tagung des Mittel- und Ostdeutschen Verbandes für Altertumsforschung (MOVA) und des West- und Süddeutsche Verbandes für Altertumsforschung (WSVA) gemeinsam mit dem Forum Archäologie in Gesellschaft (FAiG) wieder eine Sektion. Thema ist dieses Mal „(Un)Sichere Geschichte(n): Archäologie und (Post)Faktizität“

Programm (auch hier zum downloaden)

Dienstag, den 20.03.2018

8:45 Uhr • Stefan Schreiber (Berlin) / Kerstin P. Hofmann (Frankfurt a. M.), Begrüßung
9:00 Uhr • Artur Ribeiro (Kiel), Archaeology and the real: considerations on reality and the sciences
9:30 Uhr • Vesa Arponen (Kiel), Der „Reflective Turn“ in der Archäologie

10:00 Uhr • Kaffeepause

10:30 Uhr • Sophie-Marie Rotermund (Hamburg) / Geesche Wilts (Hamburg) / Stefan Schreiber (Berlin), Angst vor der Postfaktizität? Vergangenheiten als Bricolage
11:00 Uhr • Thomas Meier (Heidelberg), Vergesst Fakten
11:30 Uhr • Gabriele Rasbach (Frankfurt a. M.), „Archäologie ist die Suche nach Fakten. Nicht nach der Wahrheit.“ Postfaktizität an Beispielen aus der (Provinzial-Römischen) Archäologie
12:00 Uhr • Alexander Hilpert (Saarbrücken), „Die Villa der Secundinier“? Die römische Villa von Nennig und ihre „unsichere Geschichte“ im Spiegel der Forschung nach 1866

12:30 Mittagpause & Ende Tag 1 der Sektion (Un)Sichere Geschichte(n)

Mittwoch, den 21.03.2018

09:00 Uhr • Karin Reichenbach (Leipzig), Wem gehört die Vergangenheit? Archäologisches Reenactment als populäre Form der Geschichtsaneignung zwischen Postmoderne und Postfaktizität
09:30 Uhr • Ralf Hoppadietz (Bibracte), Versicherte Geschichte. Reenactment als Geschichtsvermittlung zwischen Post- und Kontrafaktizität

10:00 Uhr • Kaffeepause

10:30 Uhr • Rüdiger Krause (Frankfurt a. M.) / Rupert Gebhard (München), Das Narrativ von Bernstorf. Wissenschaftliches und Postfaktisches zu den Gold- und Bernsteinfunden
11:00 Uhr • Felix Wiedemann (Berlin), Die Einsichtigkeit der Erzählung. Formen narrativer Evidenz in den historischen Wissenschaften
11:30 Uhr • Lukas Bohnenkämper (Basel), Schwarz-Weiß-Malereien: Ägypten und Kusch zwischen Afro- und Eurozentrismus
12:00 Uhr • Kerstin P. Hofmann (Frankfurt a. M.), Erzähl mir doch (k)eine Geschichte(n)!

12:30 Uhr • Mittagspause

14:00 Uhr • Stefan Solleder (Berlin), Wann ist die Rekonstruktion der Vergangenheit wissenschaftlich? Theoretische Überlegungen anhand des Falls „Nordirlandkonflikt“
14:30 Uhr • Bärbel Auffermann (Mettmann), Von der Schatzkammer zum sozialen Raum
15:00 Uhr • Laura Löser (München), Mut zur Lücke. Ein Plädoyer für Bedeutsamkeit und Chance von Unsicherheit in archäologischer und historischer Museumsvermittlung

15:30 Uhr • Kaffeepause

16:00 Uhr • Doris Gutsmiedl-Schümann (Berlin), Archäologiestudiengänge zwischen (re)konstruierter Vergangenheit und historischer Wahrheit
16:30 Uhr • Jana Anvari (Berlin) / Eva Rosenstock (Berlin), Neolithic Doom: negative Darstellungen der Neolithisierung in populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen

17:00 Uhr • Abschlussdiskussion


Abstracts

Artur Ribeiro (Kiel), Archaeology and the real: considerations on reality and the sciences

One of the most interesting aspects of twentieth century scholarship is the rise of a dichotomy separating the real from the unreal. Whereas in the philosophy of the 17th to the 19th century there was much discussion concerning whether knowledge depended primarily on empirical observation (empiricism) or on human faculties (idealism), in the 20th century we can recognize a shift towards discussions on what is ontologically real and what is not. This new development has generated countless debates and has added more confusion to our understanding of the role of science in society.

This differentiation of what is real and unreal is also what underlines the rise of new philosophical trends like object-oriented ontology, assemblage theory, and speculative realism. However, a closer look at this differentiation in these new philosophical trends reveals a series of fallacies and inconsistencies. What is “real” is apparently decided by scholars and scientists by completely arbitrary means and imposed authoritatively. A more coherent and productive way of thinking about reality is to return to common-sense and follow the Wittgensteinian principle that it is ordinary language which establishes our understanding of what is real and what is not.

In archaeology this means a return to more solid factual and evidential ground – one that is not bogged down by artificial and arbitrary distinctions between ontology, epistemology, constructed, and real. Furthermore, this aligns with postfactuality: we are now entering a period which should not be feared, much on the contrary, we should embrace postfactuality as an intellectual achievement given that it forces us, as a society, to recognize a clear and commonsensical distinction between what is real and fake.

Vesa Arponen (Kiel), Der „Reflective Turn“ in der Archäologie

Im philosophischen Critical Realism wird vom Epistemic Fallacy gesprochen: „that statements about being can always be transposed into statements about our knowledge of being” (Bhaskar 2008). Laut Critical Realism ermöglicht dieser „Irrtum” den Skeptiker zu behaupten, dass „our knowledge” immer im Prinzip vom „being”, Fakten, getrennt sein wird. Der kritische Realismus vertritt im Gegensatz dazu die Meinung, dass der Begriff der Wissenschaftlichen Untersuchungen nicht ohne das „Sein“ als strukturierter, regelmäßiger, vom Mensch unabhängiger Mechanismus aufgefasst werden kann.

Der Vortrag soll die Bedeutung dieser Debatte für die Geisteswissenschaftliche Forschungs­praxis evaluieren und dies anhand von Beispielen aus der archäologischen Praxis darstellen. Die Wissenschaft wird als ein dialogischer Prozess dargestellt, indem der Begriff des „Reflective Turn“ an Bedeutung gewinnt. Der wissenschaftliche Prozess wird als von Paradigmen gesteuert verstanden, welcher die Wichtigkeit der Selbst-Reflexivität und des ordentlichen, wissenschaftlichen Verfahrens darstellt. Dieser kann als eine Alternative gesehen werden, die auch z.B. aus konstruktivistischer Sicht betrachtet, verständlich sein kann: „knowledge must be viewed as a produced means of production and science as an ongoing social activity in a continuing process of transformation“ (Bhaskar 2008). In den Beispielen wird die Rolle der verschiedenen Begriffe der Macht und Ungleichheit in der archäologischen Interpretation diskutiert.

Literatur: Roy Bhaskar, A Realist Theory of Science (London / New York 2008 [1975]).

Sophie-Marie Rotermund (Hamburg) / Geesche Wilts (Hamburg) / Stefan Schreiber (Berlin), Angst vor der Postfaktizität? Vergangenheiten als Bricolage

Die Angst vor der Postfaktizität macht sich auch in der Archäologie bemerkbar. Jedoch greift ein Zurückziehen auf vermeintlich sichere, empiristische Positionen, wie sie bisweilen im Glauben an objektive, naturwissenschaftliche Methoden oder die Faktizität archäologischer Materialität praktiziert wird, häufig zu kurz. Denn Archäolog*innen sind nicht, und waren nie, die einzigen Akteure der Vergangenheitskonstruktionen.

Archäologische Konstruktionen unterscheiden sich durch eine methodische und kohärente Darstellung von anderen, zum Teil öffentlichkeitswirksameren Darstellungen. Eine Trennung in „faktische“ Wissenschaft und „postfaktische“ un-/nicht-/pseudowissenschaftliche Diskurse ist unserer Meinung aber nicht ausschlaggebend für den Erfolg vergangen­heitsbezogener Konstruktionen. Vielmehr ist es immer bereits eine Gemengelage aus unterschiedlichsten Interessen und Assoziationen, deren Qualität sich an der Viabilität und Anschlussfähigkeit an Erfahrungen und andere Konstruktionen bemisst (von Glasersfeld 1992, 30).

Wir wollen daher in unserem Vortrag mit Rekurs auf das Konzept der Bricolage nach Claude Lévi-Strauss (1991 [1962]) an verschiedenen Beispielen diskutieren, wie vielschichtig der Konstruktionsprozess der Vergangenheit ist. Denn dieser speist sich nie ausschließlich aus faktischem Wissen, sondern immer auch aus diversen anderen Quellen wie eigenen Interessen, Spielen, Filmen, Romanen, Sagen, Erzählungen, Märchen, Wünschen und Ängsten. Auf welche Art und Weise werden diese Quellen zusammengesetzt und welche Rolle spielt hierbei die Faktizität? Können und sollen faktische und ethische Qualitäten Einfluss auf die Vergangenheitskonstruktionen haben? Erst wenn wir verstehen, wie die Vergangenheiten als Bricolage entstehen, lassen sich die Aufgaben und Herausforderungen einer Archäologie im “postfaktischen Zeitalter” einschätzen und zugleich erkennen, dass wir schon immer in einem solchen leben.

Literatur: Ernst von Glasersfeld, Aspekte des Konstruktivismus: Vico, Berkeley, Piaget, in: Gebhard Rusch – Siegfried J. Schmidt (Hrsg.), Konstruktivismus: Geschichte und Anwendung. Delfin 1992 (Frankfurt a. M. 1992) 20–33; Claude Lévi-Strauss. Das wilde Denken. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1991 [1962].

Thomas Meier (Heidelberg), Vergesst Fakten

Die Vorstellung, dass es empirisch beobachtbare Fakten gebe, die Zugang zu einer objektiven Wahrheiten ermöglichten, entwickelte sich seit dem 17. Jahrhundert und basiert auf der Annahme, dass die wahrnehmbare Welt Rückschlüsse auf ihren Schöpfergott zulasse, der in der christlichen Vorstellung absolut und einzig wahr ist. Auch wenn die Aufklärung den christliche Gott als letzten Grund der Welterkenntnis den Wissenschaften ausgetrieben hat, haben weite Teile dieser Wissenschaften weder die Suche nach der Wahrheit als Ziel noch den Zugang über empirische Fakten in Frage gestellt. Vielmehr hat das Spurenparadigma solche Fakten als Weg zu einer – oft historisch gedachten – Wahrheit auch in den Geisteswissenschaften etabliert.

Der Vorwurf des Post-Faktischen rekurriert auf diesen kulturellen, aber absolut gesetzten Faktenbegriff und soll zugleich beschreiben, dass divergente Argumentationen die logische Struktur einer empirischen Beweisführung verleugnen. Der Begriff des Post-Faktischen führt aber in die Irre, da Meinungsunterschiede gar nicht hinsichtlich der grundsätzlichen Existenz und Beweiskraft von Fakten bestehen, sondern hinsichtlich ihrer Erkennbarkeit und Interpretationsmöglichkeiten. Insofern gehört der Begriff zu den fruchtlosen Disputen über nicht-hinterfragbare Glaubenssätze: „Die Wahrheit liegt in empirischen Fakten“ versus „Die Wahrheit liegt im Auge des Betrachters“. Ebenso fruchtlos ist der Versuch, empirische Faktizität ethisch zu begründen, da sich jeder beliebige ethische Standpunkt einnehmen lässt, und er immer nur innerhalb der Gruppe Bindungskraft entwickeln kann, die ihn bereits teilt.

Das Erschütternde an „post-faktischen“ Argumentationen ist vielmehr die Auflösung intersubjektiver Standards zugunsten einer rein subjektiven Willkür der Realitätssetzung. Innerhalb der Wissenschaft ist Post-Faktizität daher als Modus der Erkenntnisgewinnung unzulässig, weil Wissenschaft stets auf dem kontroversen Diskurs gleich erkenntnisbegabter Partner im Rahmen eines gemeinsamen Regelwerks der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit basiert. Außerhalb des Felds der Wissenschaft ist Post-Faktizität hingegen sehr viel schwieriger zu kritisieren, da gesellschaftliche Regelsysteme grundsätzlich veränderbar sind. Politisch betrachtet, verbergen sich hinter post-faktischen Argumentationen autokratische Ansprüche, so dass sich hier von einem ethischen, also kulturrelativen Standpunkt aus argumentieren lässt. Von historischer Seite sind die gesellschaftlichen Konsequenzen despotischer und willkürlicher Herrschaft als Optionen einer post-faktischen Zukunft vor dem Hintergrund entsprechender Vergangenheiten zu skizzieren.

Gabriele Rasbach (Frankfurt a. M.), „Archäologie ist die Suche nach Fakten. Nicht nach der Wahrheit.“ Postfaktizität an Beispielen aus der (Provinzial-Römischen) Archäologie

Das Zitat von Indiana Jones eröffnet eine Diskussion um Aussagemöglichkeiten und -grenzen in der Archäologie.

  • Durch die Interpretation von Befunde und Funden wird ein Narrativ entwickelt, das – quasi präfaktisch – publiziert wird, ohne quellenkritisch die Dinge zu hinterfragen.
  • Mit diesen Narrativen wird versucht, sich „der historischen Wirklichkeit“ zu nähern. In Ausstellungen und Publikationen Rekonstruktionen dieser unbekannten, vergangenen Wirklichkeiten – vergangene Landschaften und Siedlungsgefüge – „fotorealistisch“ als Fakten installiert. Dabei geht die Bandbreite an Interpretationsmöglichkeiten zunehmend verloren.

Die archäologischen Wissenschaften reagieren auf tatsächliche oder vermeintliche Vorgaben der Forschungspolitik und  gesellschaftliche Trends:

  • Forschungsergebnisse werden für einseitige historische Narrative missbraucht, die zu politischen und propagandistischen Zwecken genutzt werden
  • Die Forschung selbst übersteigert eigene Ergebnisse, besonders im Zusammenhang mit Bewertungskriterien oder zur Akquise von Drittmitteln und dieselben „sensationellen“ Ergebnisse werden gezielt medial vermarktet.

Aber falsche, gefälschte und „geschönte“ Nachrichten sind bereits aus der Antike selbst bekannt; leicht nachzuvollziehen ist dies bei der gezielten Falschinformation von politischen Gegnern, eine Vorgehensweise, die auch aktuell zur Anwendung kommt. Bis heute werden topoi von Fremden und „Barbaren“ bedient.

Postfaktizität ist mit einer diskussionsfreudigen Kommunikation von Forschungsergebnissen zu begegnen, denn wir können (und müssen) Stellung zu aktuellen gesellschaftlichen Themen nehmen (Landschaftsentwicklung durch Klimaschwankungen und die Veränderungen in Siedlungsmuster, die Reaktionen vergangener Gesellschaften auf Hunger und Krieg oder Migrationsbewegungen, um nur einige aktuelle politische Themen zu nennen). Aber in Abgrenzung zu pauschalen Urteilen gilt es klarzustellen, dass es monokausale Erklärung nicht geben kann; den daraus resultierenden Vorwürfen der mangelnden Bereitschaft zu „eindeutigen“ Aussagen müssen wir uns entgegenstellen. Wir Archäologen dürfen uns die Deutungshoheit über archäologische und historische Quellen nicht nehmen lassen.

Alexander Hilpert (Saarbrücken), „Die Villa der Secundinier“? Die römische Villa von Nennig und ihre „unsichere Geschichte“ im Spiegel der Forschung nach 1866

Der historische Blick auf die Forschungsgeschichte der römischen Villa von Nennig zeigt, dass es sich bei dem Wissen um diesen Fundort in großen Teilen um „unsichere Geschichte“ handelt: 1852 weckte die Entdeckung des prachtvollen Mosaiks europaweites Interesse, aber erst 1866 wurde eine größere Grabung durchgeführt, bei der unter anderem ein separates Badegebäude gefunden wurde. Der damalige Grabungsleiter Heinrich Schaeffer, dessen Biographie vom Referenten gerade im Rahmen einer historischen Dissertation untersucht wird, skizzierte damals Wandmalereien, die angeblich sofort verblassten, und Besitzer-Inschriften (der treverischen Familie der Secundinier), die dem Fundort eine herausragende Geschichte zuwiesen. Letzteres wurden nach jahrelangem epigraphischem

Streit als Fälschung erkannt. Weil man den Fundberichten nun nicht mehr traute, wurde die Villa 1869 erneut aufgedeckt, doch erst bei Grabungen im 20. Jahrhundert konnten wieder Wandmalereien dokumentiert werden. Die Skizzen, Beschreibungen und Erzählungen des 19. Jahrhunderts wurden dagegen bislang kaum analysiert. Ein von Schaeffer verfasstes Manuskript über die „Die Villa der Secundinier“ ist erst jüngst vom Referenten wiederentdeckt worden.

Der Vortrag untersucht die Manuskripte des ersten Grabungsleiters narratologisch und im Kontext des 150 Jahre währenden Diskurses um Nennig. Im Zusammenhang mit weiteren Briefen, Zeitungsartikeln und Zeichnungen aus der Feder des dubiosen Archäologen soll nicht nur ein Blick in die Plausibilisierungs- und Authentisierungsverfahren des 19. Jahrhunderts geworfen werden, sondern es soll darüber hinaus auch herausgearbeitet werden, welche Auswirkungen sie für die weitere Forschung hatten.

Karin Reichenbach (Leipzig), Wem gehört die Vergangenheit? Archäologisches Reenactment als populäre Form der Geschichtsaneignung zwischen Postmoderne und Postfaktizität

Im Vortrag möchte ich anhand von Beispielen aus der deutschen und polnischen Frühmittelalter-Reenactment-Szene die Problematik aufgreifen, dass insbesondere im Rückgriff auf angenommene vorchristliche, heidnische Lebensweisen Geschichtsbilder aktiviert werden, die an rechtsextreme, neopagan orientierte Ideologien anschlussfähig, und auf diese Weise Segmente der Reenactmentkultur auch nachweislich in rassistisch-neofaschistische Subkulturen und Netzwerke eingebunden sind.

Da Demokratisierungs- und Pluralisierungsprozesse der postmodernen Gesellschaft für die Vielfalt jüngerer Geschichtszugänge und damit für die Partizipation an der Herstellung von Vergangenheitsentwürfen verantwortlich gemacht werden, stellt sich hier die Frage, ob die Demokratisierung der Geschichtszugänge denn auch immer der Demokratie dient?

Wenn es aus erkenntistheoretischer Sicht keine absolute, beobachterunabhängige Instanz gibt, die darüber entscheiden kann, was ‚wahr’ ist, und wenn es angesichts der Unzugänglichkeit der – ja vergangenen – Vergangenheit keine Möglichkeit des Abgleichs mit den hervorgebrachten Geschichtsbildern gibt, wer kann darüber befinden, was ‚authentisch’ ist? Und wie und auf welcher argumentativen Grundlage können sich Wissenschaft und Museen zu problematischen Geschichtsentwürfen positionieren?

Ralf Hoppadietz (Bibracte), Versicherte Geschichte. Reenactment als Geschichtsvermittlung zwischen Post- und Kontrafaktizität

Momentan ist die Rede vom „Postfaktischen Zeitalter“ in aller Munde. Als relativ neues Phänomen angesehen, werden die wissenschaftstheoretischen Auseinandersetzungen um die Möglichkeit des Nachweises einer objektiven Wahrheit der vergangenen Dekaden meist ignoriert.

Auch innerhalb der Ur- und Frühgeschichtsforschung wird bis heute zumeist wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass wir uns durch möglichst genaue und umfassende Daten- und (Arte-) Faktenanalyse einer historischen Wahrheit von vergangenem Leben (und Denken) annähern könnten. Die dabei produzierten Vorstellungen werden in der Folge weitgehend unreflektiert in die außerwissenschaftlichen Diskurse übernommen und als vermeintliche historische Gewissheiten verhandelt. Nirgends tritt die Annahme einer Faktizität unseres Wissens über die (eine) historische Wahrheit so deutlich zutage wie im Bereich der Vermittlung von Geschichte. Durch die Erschaffung von Lebensbildern und eine Visualisierung scheinbar „zum Leben erweckter“ historischer Realitäten durch archäologisches/historisches Reenactment werden vermeintliche Fakten in eine dauerhafte Form gegossen. Das daraus entstehende Konstrukt bietet weder die Möglichkeit, wissenschaftliche Unsicherheiten und Leerstellen unseres Wissens über vergangene Gesellschaften aufzuzeigen, noch alternative bzw. konkurrierende (Erklärungs-)Modelle. Dies betrifft vor allem die Darstellung sämtlicher immaterieller Kulturäußerungen, wie beispielsweise soziale und religiöse Vorstellungen. Neben dieser allgemeinen Problematik ist gerade im Bereich des Reenactment das Phänomen einer dezidiert ideologisch determinierten Darstellung zu beobachten, bei der jedwede wissenschaftliche Diskussionen zugunsten eigener außerwissenschaftlicher Überzeugungen negiert werden und die teilweise als kontrafaktisch bezeichnet werden muss.

Ausgehend von den erkenntnistheoretischen Überlegungen, die im Beitrag von Karin Reichenbach vorgestellt werden, soll der Vortrag anhand von konkreten Fallbeispielen zeigen, wie in Teilen des archäologischen Reenactment (teilweise bewusst) bestimmte Bilder einer Vergangenheit konstruiert werden, aus welchen (außerarchäologischen) Diskursen diese stammen und zu welchen Verzerrungen im Hinblick auf den allgemeinen Forschungsstand diese führen. Daneben soll aufgezeigt werden, wie langlebig diese erzeugten Bilder gerade im außerwissenschaftlichen Diskurs sind und zu welchen sich gegenseitig perpetuierenden Wechselbeziehungen diese führen.

Rüdiger Krause (Frankfurt a. M.) / Rupert Gebhard (München), Das Narrativ von Bernstorf. Wissenschaftliches und Postfaktisches zu den Gold- und Bernsteinfunden

Das Narrativ von Bernstorf besteht derzeit je nach Perspektive und Betrachter aus wissenschaftlichen Daten und Fakten ebenso wie aus Konstrukten wissenschaftlicher Halbwahrheiten und Unterstellungen. Mit der Auffindung der Goldbleche und der verzierten Bernsteine in Bernstorf, der größten Befestigung der mittleren Bronzezeit nördlich der Alpen, wurden 1998 und 2000 unmittelbar Fälschungsvorwürfe gegen die Finder, Mitglieder des Archäologischen Vereins Freising, vorgebracht, die bis heute eine zentrale Grundlage für die Fälschungsbefürworter darstellen. In der Folge entwickelten sich bis heute Unterstellungen, menschliche Zerwürfnisse und mit Daten und Argumenten unterschiedlicher Qualität gefütterte wissenschaftliche Konstrukte.

Die so entstandenen alternativen Fakten sollten dabei treffender im Rahmen eines der Legitimation einer bestimmten Position dienenden Rechtfertigungsnarrativs kommuniziert werden. Um es mit dem Tübinger Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen zu formulieren (Forschung & Lehre 2/2107), „…deutet der Begriff des Post-Faktischen eine erlebbare Wahrheitskrise zu einem bereits feststehenden Resultat um, zum kaum vermeidbaren Übel“. Deshalb schlägt er vor, das postfaktische Zeitalter besser das „peinliche Zeitalter“ zu nennen, in welchem die Weltgemeinschaft der Wissenschaftler vor dieser Wahrheitskrise kapituliert.

Im Gegensatz dazu streben wir an, aus fundierten wissenschaftlichen Daten und Quellen, Ereignissen und Beobachtungen, ein Narrativ zu entwickeln, das eine konsistente epochenspezifische und übergreifende Darstellung des bronzezeitlichen Bernstorf ermöglicht.

Felix Wiedemann (Berlin), Die Einsichtigkeit der Erzählung. Formen narrativer Evidenz in den historischen Wissenschaften

Alle Wissenschaften streben nach Evidenz, d.h. nach Unmittelbarkeit, Augenscheinlichkeit und Einsichtigkeit ihrer Aussagen und Befunde. Aus wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive erweist sich Evidenz dabei nicht etwas Gegebenes, sondern als etwas Gewordenes und kann als das begriffen werden, was in einem bestimmten historischen, sozialen und epistemischen Kontext als einsichtig und überzeugend gilt. In jeder Epoche kursieren und konkurrieren verschiedene Evidenzformen, die etwa nach wissenschaftlichen Fachrichtungen, Disziplinen oder Diskursformationen unterschieden werden können.

In diesem Sinne weisen auch die historischen Wissenschaften spezifische Evidenzformen auf, die je nach Disziplin unterschiedliche Gewichtung erfahren. So eignet Evidenz nicht den im Rahmen einer Argumentation angeführten Quellen an, sondern stellt sich als Folge unterschiedlicher Auffassungen darüber ein, was als augenscheinlich oder offenkundig gilt. Der Beitrag wird zunächst die verschiedenen Evidenzformen und ihre Einteilungs­möglichkeiten in den historischen Wissenschaften skizzieren und anschließend auf eine spezifische Evidenzform fokussieren, die in allen ihren Zweigen eine gewichtige Rolle zu spielen scheint: die narrative Evidenz. Mit narrativer Evidenz hat man es dann zu tun, wenn die Überzeugungskraft einer Aussage wesentlich auf der Form der Erzählung basiert und sich nicht aus einem Erzählkontext herauslösen lässt. In den historischen Wissenschaften kommen narrative Evidenzen sowohl auf der Ebene der herangezogenen Quellen (sofern diese als explizite oder implizite Erzählungen begriffen werden können) als auch bei der Einbettung in den forschungsgeschichtlichen Kontext sowie schließlich bei der eigenen Darstellung ins Spiel. Sie erweisen sich mithin nicht erst bei der Vermittlung, sondern bereits bei der Konstitution historischen Wissens als konstitutiv.

Lukas Bohnenkämper (Basel), Schwarz-Weiß-Malereien: Ägypten und Kusch zwischen Afro- und Eurozentrismus

Im europäischen und US-amerikanischen Geschichts- und Rassendiskurs nehmen Ägypten und Kusch als historische Referenzpunkte seit dem 19. Jh. eine zentrale Stellung ein. Bereits Georg W. F. Hegel trennte Ägypter und Punier vom „geschichtslosen“ Schwarzafrika und Vertreter der Hamitentheorie wie Charles G. Seligman und Carl Meinhof festigten diese Trennung durch die Annahme einer überlegenen hamitischen Rasse. In diesem Zusammenhang sind auch William M. F. Petries einflussreiche Hypothese einer kultur­bringenden vorderasiatischen „Dynastic Race“ und James H. Breasteds nordost­afrikanische „Great White Race“ zu nennen. In den USA waren die Frage nach der rassischen Zugehörigkeit der Ägypter und die sich daraus ergebenden Implikationen für die Rechtfertigung der Sklaverei sogar grundlegend für die Entstehung der dortigen Ägyptologie. Seit dem 19. Jh. wird diesen Behauptungen von Forschern wie Martin R. Delany, George G. M. James, William E. B. Du Bois, Cheikh Anta Diop und Molefi Kete Asante die Auffassung entgegengestellt, dass Ägypten und Kusch schwarzafrikanische Gesellschaften und der Ursprung der Zivilisation gewesen seien. Der gesamtgesellschaftliche Diskurs, welcher durch Martin Bernals „Black Athena“ neu angefacht wurde, prägt auch heute noch die akademischen, musealen und massenmedialen Konstruktionen Ägyptens und Kuschs. Die Genese und aktuelle Wirkmächtigkeit dieser Geschichtsbilder sowie die Frage, wie sich die heutige Ägyptologie in diesem Diskurs positioniert beziehungsweise positionieren sollte, werden die Themen des Vortrages sein.

Kerstin P. Hofmann (Frankfurt a. M.), Erzähl mir doch (k)eine Geschichte(n)!

Dass man in der Archäologie nicht nur ausgräbt, sammelt, beschreibt und klassifiziert, sondern auch erzählt, ist inzwischen ein Allgemeinplatz. Die Fragen, wie man Geschichte(n) schreiben will und welchen Einfluss unterschiedliche Darstellungsweisen auch auf die Forschungspraxis haben, werden jedoch noch vergleichsweise selten diskutiert. Beschreiben und Erzählen sind nämlich nicht nur zwei unterschiedliche Darstellungsmethoden, sondern auch „grundlegend verschiedene Stellungen zur Wirklichkeit” (Georg Lukács, Erzählen oder beschreiben? Zur Diskussion über Naturalismus und Formalismus. In: Essays über Realismus. Georg Lukács Werke 4. Probleme des Realismus I (Neuwied 1971 [1936]) 197–242; hier: 206). In dem Diskussionsbeitrag geht es u. a. darum, zur Reflexion über die Eignung und Auswirkungen verschiedener Darstellungsformen und -methoden bei der Erforschung und Vermittlung von Brechungen, (Un)Kenntnis und Fremderfahrungen, von Raum und Zeit sowie von Sinnordnungen und ihren Hierarchisierungen anzuregen. Dabei sollen auch ethische Implikationen, die Möglichkeit der Abgrenzung von Fakten und Fiktionen und die Chancen und Risiken einer Orientierung an Kunst, Literatur und neuen anderen Medien angesprochen werden. Ist es wirklich sinnvoll, der immer lauter werdenden Forderung nach Narrativen nachzugeben? Was können uns narratologische und medienwissenschaftliche Theorien und Forschungen über unsere Wirklichkeits(re)konstruktionen und Forschungspraktiken lehren?

Stefan Solleder (Berlin), Wann ist die Rekonstruktion der Vergangenheit wissenschaftlich? Theoretische Überlegungen anhand des Falls „Nordirlandkonflikt“

Die Konstruktion und Benutzung von Geschichte(n) und historischen Mythen für politische Zwecke ist charakteristisch für den Nordirlandkonflikt. Beide Seiten, pro-irische Katholiken und pro-britische Protestanten, erschaffen ihre jeweiligen ethnischen Gruppen-Identitäten mit Bezug auf mythologische und historische Ereignisse (u.a. durch das Malen propagandistischer Wandbilder in den Straßen ihrer Hochburgen, sog. Murals). Die Ereignisse reichen von der jüngsten Vergangenheit über die 1910er Jahre, das 18., 17. und 11. Jh. bis in früh- und vorgeschichtliche Zeiten zurück. Charakteristisch ist jeweils, dass Mythen, historische Ereignisse und ‚Fakten‘ so interpretiert werden, dass sich mit ihnen Jahrhunderte oder gar Jahrtausende umfassende Kontinuitäten erschaffen lassen. Ersten geht es hier um die Konstruktion einer althergebrachten Feindschaft, zweitens um die Konstruktion einer uralten kulturellen Gruppe und drittens darum, territoriale Herrschaftsansprüche auf Nordirland zu legitimieren.

Auffällig ist an den Konstruktionen, dass sie – oftmals auf subtile Art und Weise – Geschichte in eine spezifische Richtung deuten durch Auslassungen, Betonungen, Verdrehungen, Interpretationen oder fehlendes Hinterfragen.

Der subjektive und kritisierbare Standpunkt der Produktion ethno-nationalistischer Geschichtsschreibung lässt sich daher relativ leicht identifizieren. Das Problem im Anschluss hieran besteht jedoch darin, den Standpunkt der Kritik an der ethno-nationalistischen Geschichtsschreibung exakt zu benennen. Was kann an der Arbeit der Sozial-, Geschichts- und Kulturwissenschaften besser – und nicht nur anders sein? Die These dieses Vortrags hierzu lautet, dass Wissenschaft dann ‚besser‘ sein kann, wenn sie einen besonderen ethischen und nicht nur einen besonderen methodologischen Standpunkt einnimmt, d.h., wenn sie Kritik nicht nur erträgt, sondern geradezu erwartet und aktiv herausfordert. Ethno-Nationalisten ertragen i.d.R. Kritik nur schwer, erwarten tun sie gar nicht und sie betrachten ihre Sichtweisen als ewige Wahrheiten.

 

Bärbel Auffermann (Mettmann), Von der Schatzkammer zum sozialen Raum

Museen halten sich in der eigenen Wahrnehmung für bedeutende Orte der Vermittlung von Vergangenheit, dabei haben ihnen im 21. Jahrhundert andere Medien längst den Rang abgelaufen. Der Vortrag zeigt Wege auf, mittels derer Museen heute versuchen, relevant zu bleiben. Im Neanderthal Museum verstehen wir uns als Lobbyisten für Evolutionslehre und Menschheitsgeschichte. Wir machen vielschichtige Vermittlungsangebote und bedienen unterschiedliche Kommunikationswege, um möglichst viele Zielgruppen zu erreichen. Das Badische Landesmuseum Karlsruhe denkt seine Dauerausstellung derzeit radikal neu und möchte sich als authentischer und sozialer Raum öffnen. Diese und weitere Beispiele werden aufgezeigt und hinterfragt. Reichen diese Maßnahmen aus, um von der Gesellschaft weiterhin als vertrauenswürdige Institutionen akzeptiert zu werden? Welche weiteren Schritte einer breiten Öffnung sind denkbar?

Laura Löser (München), Mut zur Lücke. Ein Plädoyer für Bedeutsamkeit und Chance von Unsicherheit in archäologischer und historischer Museumsvermittlung

Dürfen sich die Archäologien zu Unsicherheiten bekennen, wenn ihre Legitimität in der Gesellschaft ohnehin schon in Zweifel steht? Nein, so möchte ich in meinem Paper argumentieren, vielmehr stehen sie sogar in der Pflicht, die Öffentlichkeit über die grundsätzliche Fragwürdigkeit ihrer Ergebnisse aufzuklären.

Denn ein weitverbreitetes Missverständnis in der Bevölkerung ist, dass die Archäologie hauptsächlich dazu diene, die Vergangenheit zu illustrieren, nicht aber, sie zu verstehen [Nick Merriman, „Involving the Public in Museum Archaeology”. In: Robin Skeates (Hrsg.): Museums and Archaeology (Oxford/New York 2017) 550] Dass sich unter dieser Voraussetzung eine nachhaltige Wertschätzung für die Archäologien nicht halten kann, leuchtet ein. Daher sollten Vertreter*innen der archäologischen Öffentlichkeitsarbeit, insbesondere in den Museen, fragwürdige Forschungsergebnisse nicht verstecken, sondern zur Diskussion stellen. So stärken sie das Bewusstsein für die Komplexität und die Bedeutung von archäologischer Forschung in der Gesellschaft.

In meinem Paper möchte ich jedoch dafür plädieren, noch einen Schritt weiter zu gehen und in einen Dialog mit den Menschen zu treten. Im Austausch mit der interessierten Öffentlichkeit werden wir immer wieder mit Problemen konfrontiert, die vermeintlich längst beantwortet sind. Wenn wir uns jedoch wirklich noch einmal die Quellen vornehmen, stellen wir nicht selten fest, dass unsere Antworten so eindeutig dann doch nicht sind. Die Fragen und Vorstellungen unseres Publikums kann und sollte daher unsere Arbeit befruchten, und wir sollten keine Angst davor haben, ihm ein gewisses Maß an Freiheit zuzumuten: am Beispiel einer kreativen Schreibwerkstatt, die ich kürzlich am Landesmuseum Mainz durchführen durfte, möchte ich den Stellenwert von Kreativität und Fantasie im Kontext von Museumsvermittlung erläutern.

Doris Gutsmiedl-Schümann (Berlin), Archäologiestudiengänge zwischen (re)konstruierter Vergangenheit und historischer Wahrheit

„In der Schule geht es um Antworten, an der Uni geht es um Fragen“ [Dr. Karin Beck, Leiterin des Colleges der Leuphana-Universität Lüneburg in einem Interview auf Spiegel Online am 6.5.2013 (http://www.spiegel.de/lebenundlernen/uni/helikopter-eltern-hochschulen-entdecken-eltern-als-zielgruppe-a-897649-4.html [11.12.2017])].: Dieser Perspektivwechsel stellt für Studierende, gerade zu Beginn Ihres Studiums, eine große Herausforderung dar. In diesem Kontext ist m.E. zu sehen, dass Studierende mitunter erwarten, historische Wahrheiten gelehrt zu bekommen oder von ihren Lehrenden die Präsentation der einen, gültigen Geschichte einfordern.

Wie gehen die aktuellen Archäologiestudiengänge damit um? Zu welchen Zeitpunkt im Studienverlauf, in welchem Umfang und im Rahmen von welchen Modulen setzen sich die Studiengänge mit generellen erkenntnistheoretischen Problemen wie der im Call for Papers genannten Beobachterabhängigkeit gegenüber Erkenntnisgegenständen sowie fachspezifischen Aspekten wie der (Re)Konstruktion von Vergangenheitsentwürfen auseinander? Wird in den  Studiengängen die wissenschaftlichen Herangehensweisen an archäologische Quellen in diesem Kontext  problematisiert; wenn ja, wie und in welchem Rahmen? Wie wird in den Studiengängen gegenüber den Studierenden als künftigen Multiplikatoren archäologischer Themen Vergangenheit (re)konstruiert und vermittelt?

Ich möchte mich in meinem Beitrag auf Grund einer Analyse der aktuellen Studien- und Prüfungsordnung sowie der Modulpläne archäologischer Bachelor- und Masterstudiengänge mit diesen Fragen auseinandersetzen. Zugleich möchte ich diskutieren, wie sich im Kontext aktueller hochschuldidaktischer Konzepte die Studiengänge der Herausforderung der Vermittlung dieser mitunter schwierigen Fragen stellen können.

Jana Anvari (Berlin) / Eva Rosenstock (Berlin), Neolithic Doom: negative Darstellungen der Neolithisierung in populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen

In den letzten Jahren und Jahrzehnten findet sich in populärwissenschaftlichen Medien (Büchern, Zeitungsartikeln, Blogs, Schullehrmaterialien) zunehmend die Meinung, der Übergang zur bäuerlichen Lebensweise im Neolithikum stelle eine große Fehlentwicklung dar. Weltweit habe die Neolithisierung zu bis heute spürbaren großen sozialen und gesundheitlichen Problemen sowie Umweltschäden geführt. Diese Veröffentlichungen bilden eine Paralleldiskussion, aus der kaum Austausch mit Archäologen stattfindet und deren Ansichten in einem ambivalenten Verhältnis zur archäologischen Diskussion ähnlicher Forschungsfragen stehen. Eine besondere Relevanz ergibt sich aus dem Umstand, dass die Autoren solcher Werke – von denen einige große Verbreitung und Aufmerksamkeit erfahren haben – eine (prä)historische Narrative häufig mit negativen Aussagen über die Gegenwart und Zukunft verbinden. Basierend auf einer empirischen Inhaltsanalyse einer repräsentativen Stichprobe von Medien strebt dieser Vortrag eine erste umfassende Beschreibung des ‚Neolithic Doom‘-Phänomens an. Forschungsfragen sind dabei: Welche negativen Folgen der Neolithisierung werden postuliert? Welche (archäologischen und anderen) Fallbeispiele werden zur Unterstützung herangezogen? Welche Zukunftsvisionen werden beschrieben? Ausgehend von dieser Analyse wird der Vortrag die Einbettung des ‚Neolithic Doom‘-Phänomens in philosophische und weltanschauliche Strömungen seit der Vormoderne beschreiben und diskutieren, welche Folgerungen sich für die archäologische Praxis ergeben.

Programm der Sektion „Frage Migration! – Erkenntnistheorien, Argumente, Modelle, Paradigmen“

Datum: Dienstag, 4.07.2017
Ort: 9. Deutscher Archäologiekongress, 03. – 08.07.2017 in Mainz

Les migrations. Foto: Jodi Green. https://www.flickr.com/photos/jodigreen/9596651970/. CC BY-NC-ND 2.0
Les migrations. Foto: Jodi Green. https://www.flickr.com/photos/jodigreen/9596651970/. CC BY-NC-ND 2.0

Programm (auch hier zum downloaden)

08.45 Uhr • Organisator*innen der AG TidA • Einführung – Frage Migration!
09.00 Uhr • Sabine Reinhold • Völkerwanderung 2.0 oder Wieviel Biologie braucht der Transfer kulturelle Praktiken?
09.30 Uhr • Kerstin P. Hofmann • Migrationsnarrative. Konzepte, Methoden und Repräsentationsformen im Vergleich

10.00 Uhr • Kaffeepause

10.30 Uhr • Michael Kempf • Klima, Kollaps, Katastrophe? – interdisziplinäre Ansätze zur Abschätzung von klimainduzierter Umweltkrise und Migration
11.00 Uhr • Stefanie Eisenmann • Gruppen in Genetik und Archäologie: Die Frage nach der Nomenklatur genetischer Cluster
11:30 Uhr • Corina Knipper, Tivadar Vida, István Koncz, János Gábor Ódor, Ildikó Katalin Pap, Balázs Gusztáv Mende • Mobilität während der Völkerwanderungszeit: Implikationen von Strontium-Isotopendaten von Gräberfeldern des 5. und 6. Jh. in Westungarn
12.00 Uhr • Wolfgang Haak • Über Migrations- und Vermischungsnarrative der Archäogenetik

12.30 Uhr • Mittagspause

14:00 Uhr • Michael Werner • Migration und Raum – ein handlungstheoretischer Ansatz
14:30 Uhr • Martin Furholt • Migration, Mobilität und die Struktur sozialer Gruppen im europäischen Neolithikum
15:00 Uhr • Thomas Hoppe – Stefan Schreiber, Birgit Schorer, Maxime Rageot, Angela Mötsch, Janine Fries-Knoblach, Dirk Krausse, Cynthianne Spiteri, Philipp W. Stockhammer • Was haben Dinge mit Migrationen zu tun? Einblicke in komplexe „Mensch-Objekt-Wanderungen“ am Beispiel von Fundensembles aus Hochdorf und der Heuneburg

15.30 Uhr • Kaffeepause

16:00 Uhr • Blandina Cristina Stöhr • Migrationen, Identität und Angst – Das Fallbeispiel Griechenland und die Geflüchteten. Eine ethno-archäologische Projektskizze
16.30 Uhr • Martin Renger • Frage Migration? Antwort Ungleichheit! Ein Kommentar zum aktuellen Forschungsdiskurs und ein Plädoyer für einen Perspektivwechsel

17:00 Uhr • Abschlussdiskussion

17.30 Uhr • Mitgliederversammlung


 

Abstracts

Völkerwanderung 2.0 oder Wieviel Biologie braucht der Transfer kultureller Praktiken?
Sabine Reinhold
Eurasien-Abteilung des Deutschen Archäologischen Instituts, Berlin

Mit dem Wiedererstarken von großräumigen Migrationsparadigmen als Erklärungsmoment für Veränderungen in der Struktur prähistorischer Kulturen kehrt ein Paradigma zurück, das wir eigentlich überwunden geglaubt hatten. Insbesondere der Nachweis biologischer Zusammengehörigkeit über aDNA-Analysen lässt die These des Zusammenhangs von materieller Kultur und deren Überreste mit biologischer Verwandtschaft und ethnischer Homogenität in einem neuen Licht erscheinen. Was Gustaf Kossinna seinerzeit positiv beantwortet und als Ausgangspunkt komplizierter Expansionsszenarien gesehen hat, wurde seither lange eher verneint. Das kulturelle Handeln, die soziale Praxis, wurde ins Zentrum von Identitätsdiskursen gerückt und höher gewichtet als biologisch-verwandtschaftliche Bindungen. Abstammung konnte fiktiv sein und Identität war allein sozial konstruiert.
Mit den neuen bioarchäologischen Analysemethoden geraten solche Positionen in Wanken. Es scheint doch auch biologische – oder vor allem biologische? – Verbindungen zwischen den Leuten zu geben, die etwa ihre Toten in derselben Form begraben oder eine vergleichbare Region bewohnen. Doch wieviel Biologie steckt hinter einer archäologischen Kultur? Oder großräumigen Phänomenen wie etwa den Glockenbechern, oder der osteuropäischen Jamnaja-Kulturgemeinschaft, die sich einerseits durch weiträumig ähnliche kulturelle Praxis auszeichnen und gleichzeitig aber lokale Eigenheiten besitzen? Insbesondere in Eurasien werden mittlerweile Massen an Bevölkerungen über riesige Distanzen verschickt, für die die archäologischen Belege einer kulturellen Kohärenz eher schwach sind oder ganz fehlen.
Hier gilt es einerseits Mobilitätskonzepte neu zu definieren und andererseits zu hinterfragen, was bedeutet es eigentlich in der Realität, wenn die Kern-DNA-Analyse eine biologische „Verwandtschaft“ oder „Abstammung“ zu einem bestimmten Prozentsatz nahelegt? Mit dem Thema „Migration“ müssen eben nicht die anderen Narrative wie klar definierten Kulturgruppen, die wandern, von Landnahmen und ähnlichem zurückkehren. Vielmehr können neue Mobilitätskonzepte entwickelt werden, die kulturelle und/oder biologische Zusammengehörigkeit in einen befriedigenden Rahmen setzen.


Migrationsnarrative. Konzepte, Methoden und Repräsentationsformen im Vergleich
Kerstin P. Hofmann
Römisch-Germanische Kommission des Deutschen Archäologischen Instituts, Frankfurt a.M.

Migrationen sind nicht nur heute, sondern waren auch früher schon oft Thema von Erzählungen. In der Historiographie werden Migrationen zudem immer wieder als eine der zentralen Gründe für kulturellen und sozialen Wandel angeführt. Nicht nur unterschiedliche Handlungstragende, sondern auch verschiedene Konzepte von Mobilität, Raum, Zeit und Identität spielen dabei eine Rolle. Auch die Methoden des Nachweises von Migrationen und ihre Repräsentationsformen differieren erheblich. Am Beispiel der wikingerzeitlichen Migration von ‚Nordmännern‘ nach Britannien während der Wikingerzeit sollen Gemeinsamkeiten, Unterschiede und Wechselwirkungen verschiedener Migrationserzählungen aufgezeigt werden.


Wolf im Schafspelz – Schaf im Wolfspelz? Prähistorische Mobilität im Fokus von Molekularbiologie und Archäologie
Stefan Burmeister
Museum und Park Kalkriese

Der Mensch ist ein homo migrans; menschliche Mobilität war und ist eher der Regelfall als die Ausnahme. Von daher sind Migrationen ein zentraler Untersuchungsgegenstand der archäologischen Forschung – oder sollten es zumindest sein. Vielfach waren Wanderungen jedoch mehr axiomatische Setzungen zur Erklärung von Kulturwandel als selbst eigener Gegenstand der Forschung. Die methodologischen Probleme einer genuinen Migrationsarchäologie diskreditierten diese vielfach als eigenständigen Forschungsansatz. Die neuen Methoden der Molekularbiologie (Genetik, Isotopie) führen die Archäologie aus ihrer epistemologischen Sackgasse. Das ist unstrittig – die Naturwissenschaften liefern hier ein „Heilsversprechen“.
Wer jedoch Kritik an den beeindruckenden Ergebnissen etwa der Genetik äußert, steht schnell im Verdacht, sich dem Fortschritt zu widersetzen und alte Pfründe einer nicht mehr haltbaren Deutungsmacht zu verteidigen. Doch so einfach ist es nicht. Die neuen, durch genetische Analysen untermauerten Modelle prähistorischer Wanderungen lassen sich zwanglos in Geschichtsbilder des 19. und frühen 20. Jahrhunderts einfügen. Finden diese Narrative hier ihre Bestätigung oder sind die Deutungen genetischer Befunde nicht doch eher kontaminiert mit überkommenen Geschichtsbildern? Für letzteres lassen sich zahlreiche Beispiele anführen – hierüber gilt es sich auseinanderzusetzen.


Klima, Kollaps, Katastrophe? – interdisziplinäre Ansätze zur Abschätzung von klimainduzierter Umweltkrise und Migration
Michael Kempf
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Institut für Archäologische Wissenschaften, Abteilung Frühgeschichtliche Archäologie und Archäologie des Mittelalters

Migration eher als Prozess und nicht als Ereignis anzusehen, betont den Anspruch, einen umfassenden Überblick über die vielen ‚push‘ und ‚pull‘ Faktoren zu erlangen, die Wanderungsbewegungen auslösen können. Inwiefern sich jedoch zwischen lokalem Druck in der Heimat und Anziehungskraft in der Ferne unterscheiden lässt, oder ob eine Kombination beider Faktoren möglich ist, erschließt sich nicht zwangsläufig. Um diese Fragen zu klären verweisen ereignisbasierte Theorien interdisziplinärer Forschungsansätze gerne auf absolute Konformität von ‚Klima-Event‘ und ‚Response‘.
Allzu leicht nur scheinen sich historische Ereignisse, Perioden oder Entwicklungen in klimadeterministische Abläufe einflechten zu lassen: Der ‚Niedergang des römischen Reiches‘ – gleichzeitig eine Periode starker Klimaschwankungen, verbunden mit hohen Niederschlagsraten. Die ‚Völkerwanderung‘ – Trockenheit, abrupte Abkühlung, Dürre, Missernten und Überschwemmungen. Die ‚Justinianische Pest‘ – Konsequenz einer zehnjährigen Klimaveränderung, zurückzuführen auf eine Serie von Vulkanausbrüchen nach 536 n. Chr. Scheinbar beliebig lässt sich die Liste der verheerenden Auswirkungen auf soziale und politische Instrumente und Systeme des 3.-6. Jahrhunderts n. Chr. fortsetzen. Doch welcher Fragestellung unterliegen die Behauptungen der naturwissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit einem, auch in politischer Sicht dominierenden Thema des ausgehenden 20. und des frühen 21. Jahrhunderts? Der Versuch, sich verändernde politische Gebilde und Räume mit drastischen Einschnitten im klimatischen Haushalt zu kombinieren und zu erklären, verleitet zu einer einseitigen Betrachtungsweise von kulturgeschichtlichen Entwicklungen – die vor allem in kleinräumigen Ordnungen ablaufen. Inwieweit ist Gleichzeitigkeit ein Indiz für Kausalität? Und handelt es sich nicht vielleicht eher um eine konstruierte Verknüpfung zweier Ereignisse zu einem Narrativ? Dieser Beitrag soll einen weiten Bogen schlagen: Neben der Vorstellung naturwissenschaftlicher Parameter und Proxy werden Fragen der globalen Klimageschichte erarbeitet und auf regionalen Maßstab heruntergebrochen, um mögliche Migrationsbewegungen im archäologischen Befund aufzudecken.


Gruppen in Genetik und Archäologie: Die Frage nach der Nomenklatur genetischer Cluster
Stefanie Eisenmann
Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte, Jena

Zahlreiche Publikationen aus dem Bereich der Genetik widmen sich der Erforschung von Mobilität. Die Studien konzentrieren sich in diesem Zusammenhang nicht auf den Nachweis von Bevölkerungsverschiebungen auf kleinräumiger Ebene, sondern stellen die großen Narrative in der Urgeschichte, wie die Neolithisierung oder die weitreichenden kulturellen Veränderungen in Mitteleuropa am Ende des Neolithikums, wieder in den Fokus. Sie laufen damit dem Trend zu detaillierten Lokalstudien, der sich in der archäologischen Forschung beobachten lässt, entgegen.
Während erste kleinere DNA-Serien an menschlichem Skelettmaterial Ende der 90er Jahre bereits das Potenzial dieser Analysen für die Erforschung urgeschichtlicher Migrationen aufzeigten, haben jüngste technologische Weiterentwicklungen, wie das Next Generation Sequencing, Shotgun Sequencing und Hybridisation Enrichment, die Anwendungsmöglichkeiten hin zu großen Probenreihen maßgeblich erweitert. Man könnte von einer Kommerzialisierung des Fachbereichs Archäogenetik sprechen, ähnlich wie ihn andere bioarchäologische Disziplinen, bspw. die Analyse stabiler Isotopen, bereits durchlaufen haben.
Im Mittelpunkt des Vortrags steht eine theoretische Problematik, die aus der Ausweitung der Probenreihen in alt-DNA Studien folgt. Nach der Sequenzierung werden die einzelnen Individuen auf Grundlage ihrer genetischen Ähnlichkeiten, für gewöhnlich mit Hilfe einer Principal Components Analysis, in Gruppen zusammengestellt. Die Benennung dieser
genetischen Cluster erfolgt bislang nach keinem festgelegten System, stellt jedoch einen zentralen Schritt in der Überführung der naturwissenschaftlichen Daten in die archäologische Interpretation dar. Die Entwicklung einer allgemeinen Nomenklatur sollte daher im lebendigen Dialog zwischen den Vertretern beider Disziplinen – der Archäologie und der Genetik – erfolgen.
Erste Schritte in diese Richtung wurden bei einem Workshop des neu gegründeten „Max Planck Harvard Research Center for the Archaeoscience of the Ancient Mediterranean“ (kurz: MHAAM) im Februar dieses Jahres unternommen, und sollen im Rahmen des Archäologiekongresses zur Diskussion gestellt werden.


Mobilität während der Völkerwanderungszeit: Implikationen von Strontium-Isotopendaten von Gräberfeldern des 5. und 6. Jh. in Westungarn
Corina Knipper1, Tivadar Vida2, István Koncz2, János Gábor Ódor3, Ildikó Katalin Pap4, Balázs Gusztáv Mende5
1 Curt-Engelhorn-Zentrum Archäometrie gGmbH, Mannheim; 2 Eötvös Loránd University, Institute of Archaeological Sciences, 1088 Budapest, Múzeum körút 4/B, Hungary; 3 Wosinsky Mór Múzeum, Szekszárd; 4 Savaria Museum, Szombathely; 5 Archaeological Institute, Research Centre of the Humanities, Hungarian Academy of Sciences, 1014, Budapest, Úri u. 49, Hungary

Das Karpatenbecken ist ein Schlüsselgebiet historischer und archäologischer Forschung zur Völkerwanderungszeit. Schriftquellen überliefern eine komplexe Abfolge von Bevölkerungsgruppen des 5. bis 7. Jh., darunter Hunnen, Gepiden, Langobarden und Awaren. Die reichhaltigen archäologischen Hinterlassenschaften der Gräberfelder offenbaren räumliche Unterschiede von Bestattungsbräuchen und Grabbeigaben sowie Veränderungen dieser Merkmale im Laufe der Zeit. Dennoch mag eine unreflektierte Assoziation historischer Einheiten mit anhand von materieller Kultur und Bestattungsbräuchen herausgearbeiteten Gruppen der historischen Situation nicht immer gerecht werden. Zu bedenken sind die Dynamik ethnischer Gruppen und mögliche Verschiebungen externer Zuweisungen in Richtung historisch aktiver Führungspersönlichkeiten und militärischer Einheiten. Derzeit widmet sich ein ungarisch-deutsches Projekt der Spezifizierung der Rolle tatsächlicher Residenzwechsel von Menschen während der Völkerwanderungszeit. In einer interdisziplinären Herangehensweise verknüpft es historische, archäologische und anthropologische Informationen mit den Resultaten von Isotopenanalysen (Sr, O, C, N) an ausgewählten Gräberfeldern aus dem Karpatenbecken. Erste Ergebnisse zeigen für zwei Fundstellen in Westungarn eine große Bandbreite von Strontium-Isotopenverhältnissen im Zahnschmelz erwachsener Individuen, während sich die Analysedaten der Zähne von Kindern überwiegend in engen Wertebereichen konzentrieren. Diese Muster sprechen sowohl für Wohnortwechsel im Laufe des Lebens der meisten Personen, als auch für Siedlungs- und Bestattungskontinuität über mindestens mehrere Jahre an einem Ort. Um genauere Einblicke in die Rolle von Mobilität im täglichen Leben der Menschen und ihre Bedeutung für die Aufrechterhaltung überregionaler Kontakte zu erlangen, wird der Vortrag die Analyseergebnisse mit Modellen zu Residenzwechseln von Gruppen verschiedener Größe und einzelner Individuen konfrontieren.


Über Migrations- und Vermischungsnarrative der Archäogenetik
Wolfgang Haak
Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte, Jena

Die Ergebnisse archäogenetischer Studien vor allem der letzten 3 Jahre haben den Diskurs um Migration menschlicher Gruppen in der Vor- und Frühgeschichte nicht nur wiederentfacht, sondern auch im Spiegel aktueller gesellschaftspolitischer Ereignisse wieder direkt in den Vordergrund gerückt. Aus Sicht der Archäologie werden diese Ergebnisse – und vor allem deren Interpretation – mit großem Bedenken wahrgenommen, nicht zuletzt weil die vermeintliche Verbindung von biologischem Substrat (d.h. gemeinsamer Abstammung), materieller Kultur und eventuell auch Sprachen bereits tot geglaubte Geister des Faches heraufbeschwört.
Zweifellos sind die beteiligten Fächer, d.h. Archäologie, Anthropologie, Genetik und Linguistik durch diesen Diskurs wieder näher zusammengerückt, allerdings bedarf es nach wie vor noch deutlich mehr gemeinsamen fachübergreifenden Dialog und Kommunikation, um die noch sehr großen Missverständnisse um die wissenschaftstheoretischen Ansätze und Methodik aller Disziplinen besser zu verstehen.
In diesem Vortrag möchte ich die populationsbiologischen Konzepte hinter den genetischen Erbnissen der alten DNA- Studien erläutern, um deren Potenzial, Chancen und auch Grenzen aufzuzeigen. Gleichsam soll eine solche Darstellung die Auflösungsstärke verschiedener biologischer Markersysteme und Analysenmethoden verdeutlichen, um deren Aussagekraft im Licht archäologischen Kontexts aber auch neutraler Hypothesentests besser einschätzen zu können.


Migration und Raum – ein handlungstheoretischer Ansatz
Michael Werner
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Institut für Archäologische Wissenschaften, Abteilung Ur- und Frühgeschichtliche Archäologie / Archäologie des Mittelalters

Migration wird als dauerhafte, räumliche Verlagerung des Lebensmittelpunktes definiert. Migration findet nicht in einem abstrakten Raum statt, sondern ist an räumliche Bedingungen gebunden und wird durch diese bestimmt, hat aber auch selbst prägende Wirkung auf diese räumlichen Bedingungen.
Bei der Beschäftigung mit Migration spielen deshalb Raumkonzepte eine entscheidende Rolle. Dabei stehen sich stark geodeterministische Vorstellungen der klassischen Kulturgeographie und konstruktivistische, handlungsorientierte Vorstellungen der ‚Neuen Kulturgeographie‘ (z.B. Denis Cosgrove und Benno Werlen) gegenüber.
In den grand narratives wird Migration oft kausal auf naturräumliche Bedingungen, beispielsweise (sich wandelnde) Klimabedingungen zurückgeführt. Migration wird als kollektive Antwort der Bevölkerung eines bestimmten Raumes, auf die dort vorgefundenen Bedingungen betrachtet. Diese Antwort ist der Übertritt in einen anderen Raum der vorteilhaftere Bedingungen bietet. Die betroffenen Räume bleiben davon unbetroffen.
Bei zu Grunde liegenden konstruktivistischen, handlungsorientierten Raumkonzepten hingegen, werden Migrationsprozesse ambivalent gesehen, d.h. sie sind einerseits Ausdruck bestehender sozioökonomischer Disparitäten, andererseits fungieren sie als Treiber sozialer, ökonomischer und räumlicher Innovationen. Der Einfluss von Migrationsprozessen auf die räumliche und soziale Organisation des Herkunfts- und Ankunftskontextes sowie reziprok der Einfluss der übergeordneten gesellschaftlichen und räumlichen Strukturen auf die Akteure und deren Handeln – die damit verbundenen Diskurse und Symboliken eingeschlossen – entfalten eine doppelte Wirkmächtigkeit. Diese wird in der Literatur auch als ‚räumliche Definitionsmacht‘ konzeptualisiert.


Migration, Mobilität und die Struktur sozialer Gruppen im europäischen Neolithikum
Martin Furholt
Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Institut für Ur- und Frühgeschichte

Es ist bemerkenswert und teils beunruhigend, wie Diskussionen um prähistorische Migrationsphänomene in der Archäologie aktuelle politische Auseinandersetzungen spiegeln. So wird eine Reihe von fragwürdigen Prämissen über soziale Gruppen häufig unreflektiert dazu verwendet, stereotype Gesellschaftsbilder des frühen 20. Jahrhunderts zu propagieren, und durch ihre vermeintliche Gültigkeit in der Urgeschichte zu naturalisieren. Entscheidend hierbei ist das Vorurteil der wholeness sozialer Phänomene (n. Greenblatt 2009), d.h. die prämissenhafte Vorstellung einer Abgeschlossenheit und Homogenität sozialer Gruppen und eine auf dem selben Prinzip aufbauende Vereinfachung und Vereinheitlichung von sozialen Phänomenen, wie etwa der „Migration“. Auf dieses Vorurteil aufbauend werden in Kossinna´scher Manier kulturell geschlossene Einheiten künstlich erzeugt, einander gegenübergestellt und in zeitlich und räumlich klar abgegrenzten Ereignissen Völkerwanderungsszenarien über die Europakarte verschoben. Diese konzeptuelle Verengung sozialer Phänomene auf homogene Schubladen führt dazu, Migration als einen externen Faktor von Gesellschaften zu betrachten, anstatt als innergesellschaftliches Phänomen; sie führt dazu falsche Dichotomien zu erzeugen, etwa den Gegensatz zwischen Migranten und Nichtmigranten, Migration und Diffusion. Diese Verengung in der Archäologie ist umso verwunderlicher, als in der kulturanthropologischen Forschung seit Jahrzehnten intensiv zur Frage von Migration und Mobilität und seinem sozialen Kontext geforscht wird. Hier liegen Modelle sehr unterschiedlicher Migrations- und Mobilitätsmuster vor, die auf unterschiedlichen Skalenebenen angesiedelt sind. Sie bieten die Möglichkeit für die Prähistorische Archäologie, neu über Migration als innergesellschaftlichem Phänomen nachzudenken, und sich intensiver mit der Frage auseinanderzusetzen, welche sozialen Voraussetzungen und Konsequenzen unterschiedliche Formen von Mobilität und Migration haben.
Schließlich ist die Verteilung materieller Kultur im Raum, die ja schon im Rahmen der traditionellen kulturhistorischen Archäologie mit Phänomenen von Migration in Zusammenhang gebracht wurde, entscheidend für die Identifikation und nähere Charakterisierung von Migrations- und Mobilitätsphänomenen in der Urgeschichte. Dies kann und sollte in einem konzeptionellen Rahmen geschehen, der die oben kritisierte pauschalisierende „wholeness“-Prämisse sozialer Phänomene fallen lässt und nicht vermeintlich kulturell kohärente Einheiten mit kollektiver Agency miteinander in Kontakt treten lässt, sondern in einem konzeptionellen Rahmen, der individuelle Handlungen und Entscheidungen zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen macht.
In meinem Vortrag soll es vor allem darum gehen, Überlegungen zu Mobilität und Migration in einen Zusammenhang zu den sozialen Prozessen zu stellen, die zur Bildung und Aufrechterhaltung regional (relativ) einheitlicher materieller Kultur (irreführend als „archäologische Kulturen“ bezeichnet) führen. Dies ist mit einer Diskussion der Frage der Struktur und Zusammensetzung sozialer Gruppen verbunden, die unter anderem von den vorherrschenden Mobilitätsmustern beeinflusst werden. Ich werde darstellen, auf welche Weise es möglich ist, über das archäologische Material einen Zugriff auf die spezifischen Muster von Mobilität und Migration und die damit zusammenhängenden gesellschaftlichen Strukturen zu erhalten. Damit kann die Archäologie einen signifikanten Beitrag zur Migrationsdebatte liefern und muss das Feld nicht den Molekularbiologen überlassen.

Literatur: Greenblatt 2009: S. Greenblatt, Cultural Mobility: A Manifesto (Cambridge, UK ; New York 2009).


Was haben Dinge mit Migrationen zu tun? Einblicke in komplexe „Mensch-Objekt-Wanderungen“ am Beispiel von Fundensembles aus Hochdorf und der Heuneburg
Thomas Hoppe1, Stefan Schreiber2, Birgit Schorer, Maxime Rageot, Angela Mötsch, Janine Fries-Knoblach, Dirk Krausse, Cynthianne Spiteri, Philipp W. Stockhammer
1 Landesmuseum Württemberg, Stuttgart, BMBF-Projekt „BEFIM“; 2 Ludwig-Maximilians-Universität München, BMBF-Projekt „BEFIM“

In den Archäologien wird Migration zumeist mit der Mobilität von Menschen, Diffusion mit der Mobilität von Ideen und Objekten verbunden. Wir möchten diese Trennung in Frage stellen und stattdessen ein Alternativmodell zu Migrationen anbieten, welches die Verflechtung von Menschen, Ideen und Objekten in den Blick nimmt und nach ihren „Wanderungen“ fragt. Am Beispiel von Fundensembles aus Hochdorf und der Heuneburg möchten wir hinterfragen, ob eine Trennung in Migrationen und Diffusionen immer sinnvoll ist. Dazu diskutieren wir die Komplexität der eingegangenen Verflechtungen, aber auch die Vorteile der Perspektive integrativer „Mensch-Objekt-Wanderungen“.


Migrationen, Identität und Angst – Das Fallbeispiel Griechenland und die Geflüchteten. Eine ethno-archäologische Projektskizze
Blandina Cristina Stöhr
Freie Universität Berlin

Durch politische Instabilität und Kriege in Ländern wie z.B. Syrien, Afghanistan, Libanon oder auf den afrikanischen Kontinent flüchten derzeit und zukünftig eine große Anzahl Menschen. Da Griechenland eins der ersten Ankunftsländer für die Flüchtlinge ist, sind die Begegnungen zwischen Einwohnern und Geflüchteten in einzigartiger Weise unmittelbar. In meinem Vortrag skizziere ich ein ethno-archäologisches Projekt, welches sich mit Identitätsaushandlungen in Migrationssituationen auseinandersetzen wird und diese auf einer Mikroebene analysiert. Häufig werden in archäologischen Ansätzen Migrationen entweder als Kollektivphänoneme verstanden oder auf bioarchäologische Marker reduziert. Daher stehen oft die Migrierenden im Fokus. Mir erscheint jedoch die Kommunikation der und mit der Bevölkerung an dieser Stelle genauso wichtig. Wie beeinflusst die konkrete Kontaktsituation die Identitätsaushandlungen innerhalb der griechischen Bevölkerung und was für eine Rolle spielt die Angst „vor“ den Geflüchteten in Bezug auf die persönliche Identität? Wie geht die einzelne Person mit einer solchen Veränderung in seinem Lebensumfeld um und was bedeutet das für die Konzeption von Migrationen in der Archäologie?


Frage Migration? Antwort Ungleichheit! Ein Kommentar zum aktuellen Forschungsdiskurs und ein Plädoyer für einen Perspektivwechsel
Martin Renger
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Institut für Archäologische Wissenschaften, Lehrstuhl für Vorderasiatische Archäologie

Die Archäologie steckt in einem Dilemma. Wenn sich gesellschaftliche Verhältnisse in die Architektur einschreiben – wie es beispielsweise Foucault skizziert – oder allgemeiner formuliert in der Materialität soziokultureller Formationen Ausdruck finden, dürften zudem im Ergebnis in Vergegenständlichungsformaten manifest gewordene Prozesse wie Migration fassbar werden, die zweifelsohne transformative Momente und Dynamiken in allen Bereichen des menschlichen Zusammenlebens auslöst. Aktuelle Beispiele hierfür sind hinlänglich bekannt und sowohl in staatlichen Maßnahmen wie auch in informellen (urbanen) Strukturen offensichtlich. Der sich dabei ebenso räumlich zeigende Unterschied zwischen dem „wir [?] (hier)“ und „die anderen [?] (dort)“ könnte zurzeit nicht deutlicher hervortreten. Doch welche Hinweise, Einblicke und Rückschlüsse diesbezüglich ermöglichen urgeschichtliche, uns weitaus fragmentierter vorliegende Kontexte? Dass Migration oder allgemeiner Mobilität keine singulär auftretende Erscheinung formiert, sondern eher zur regelhaften Tatsache menschlicher Realitäten gehört, sollte mittlerweile evident sein. Gleichfalls jedoch auch die erkenntnistheoretische Sackgasse aus dingweltlichen Diversitäten, das ‚Fremde‘ oder ‚Neue‘ vom ‚Lokalen‘ und ‚Alten‘ abzugrenzen und mit jeweils dahinterstehenden spezifischen Personengruppen zu besetzen; deren Machbarkeitsdiskussion wurde durch Kramers eindringliche Kritik „Pots are not People!“ 1977 noch einmal entscheidend hinterfragt und inzwischen weitgehend durch andere Erklärungsansätze und Konzepte wie Netzwerkmodelle ersetzt. Das zuweilen ausgereizte und als defizitär empfundene genuin archäologische Rüstzeug wird derzeit durch konkrete naturwissenschaftliche Methoden ergänzt und zu kompensieren versucht, die in der Frage Migration Erfolg versprechen sollen. Doch scheint auch das philosophisch-sozialwissenschaftliche Potenzial hierfür nicht gänzlich erschöpft, muss aber unter veränderten Parametern Betrachtung finden. Dabei liegen weniger Ausgangs- und Endpunkt von Migration, sondern die permanent dadurch ausgelösten bzw. damit einhergehenden gesellschaftlichen Veränderungsprozesse im Zentrum des Interesses. Dieses ist eher an Termini wie ‚Capability‘ sowie ‚Ungleichheit‘ und ihre Sichtbarkeit im archäologischen Befund entlang der sich stets neukonstituierenden Sozialformationen insgesamt orientiert, anstatt zwischen diskursiv durch einen an (National-)Staatlichkeitskonzepten ausgerichteten Migrationsbegriff vorgeprägten gesellschaftlichen Parallelstrukturen abzuwägen.

Archäologie und Macht. Positionsbestimmungen für die Zukunft der Vergangenheitsforschung. DGUF-Tagung

Vom 5. bis 8. Mai 2016 findet im Berliner Kulturforum die Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Ur- und Frühgeschichte (DGUF) statt.

„Archäologie wird in einem komplexen Kräftespiel betrieben, in dem sich auch entscheidet, wie viel fachlich gesteuerte staatliche Archäologie es künftig noch geben wird und wie stark die archäologischen Institutionen angesichts widerstrebender Interessen auftreten können. Andere Akteure gewinnen derzeit rapide an Einfluss, z. B. in Sozialen Medien. Gesetze, welche die Archäologie massiv beeinflussen, werden beschlossen – und die Archäologie agiert und reagiert kaum. Dabei werden die berufliche Zukunft von Archäologinnen und Archäologen und die Qualität ihres Berufslebens gestaltet, und nicht zuletzt wird das öffentliche Interesse an Archäologie ausgehandelt. Wie kann, wie muss sich Archäologie dabei einbringen, damit das Fach und die Erforschung der Vergangenheit eine tragfähige Zukunft haben?“

Detailliertere Tagungsbeschreibung

Tagungsprogramm und Programmheft