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„Der Neue Materialismus ermöglicht eine gesamtheitliche Überholung unserer Interpretation der Vergangenheit; es handelt sich um ein Paradigmenwechsel für die Archäologie.“

Ein Gastbeitrag von Elena Dratva

Dr. Stefan Schreiber ist theoretischer Archäologe am Leibniz-Zentrum für Archäologie (LEIZA) in Mainz, das zweitgrößte Forschungsinstitut für Archäologie in Deutschland. Mit Denkansätzen aus der theoretischen Strömung des „Neuen Materialismus“ sieht er Chancen für sein Fach. Im März 2025 ist zum Thema „Die Dinge einmal anders betrachten – Neuer Materialismus in der Archäologie“ erstmals eine Tagung im deutschsprachigen Raum angesetzt.

Ausgehend von der posthumanistischen Kritik am Anthropozän, die den rücksichtlosen Umgang des Menschen mit seiner Umwelt verurteilt, werden seit den 1980er Jahren Denkmodelle entwickelt, um die Hierarchien zwischen Menschen und Umwelt zu ebnen. Der Neue Materialismus ist eine Denkschule, die die Beziehung des Menschen zu Technologie, Natur und Umwelt neu interpretiert; das Verständnis von Gesellschaft wird ausgeweitet auf nicht-menschliche Partizipanten. Nach dieser Auffassung haben Pflanzen, Tiere und nicht-lebendige Gegenstände ihre eigene Wirkmacht und Teilhabe an gesellschaftlichen Strukturen und Phänomenen. Diesen nicht-menschlichen Akteuren wird ein „Eigenleben“ oder auch ein „Eigenwillen“ eingeräumt, den es mitzudenken gilt.

Stefan Schreiber nennt das Beispiel einer Grabungsstätte in Sachsenhausen, Oranienburg. Im Boden des ehemaligen Konzentrationslagers könnten gefährliche Überreste von medizinischen Experimenten sein, daher ist besondere Vorsicht geboten bei der Ausgrabung. „Plötzlich wirkt der Boden nicht wie ein passives, totes Feld, sondern eine leibhafte Bedrohung – der Boden wirkt als Akteur mit und beeinflusst, wie wir ihn untersuchen können.“ Genau diese Art und Weise, Einfluss zu nehmen, ist gemeint, wenn von Wirkmacht oder Eigenwillen der Dinge die Sprache ist. Aber es gibt auch banalere Beispiele aus dem Alltag. „Wer hat seiner Katze, seinem Auto noch keinen Namen gegeben?“, sagt Stefan Schreiber. „Die Dinge und nicht-menschlichen Akteure nehmen genauso Teil an uns wie wir an ihnen.“

Ein veränderter Kultur- und Realitätsbegriff könnte sich massiv auf archäologische Fragestellungen und Resultate auswirken, zumal materielle Überreste von menschlichen Leben im Zentrum der Untersuchungen stehen. Im Rahmen der geplanten Tagung möchte Schreiber den Neuen Materialismus als Werkzeug benutzen, um überholte Herangehensweisen langfristig umzudenken. Denn die Archäologie, ebenso wie verwandte Fächer der Ethnologie und Kulturanthropologie, fußt auf wissenschaftlichen Traditionen aus einer kolonialen und imperialen Vergangenheit. Mit seinen Ambitionen trifft Schreiber durchaus auf Widerstände im Kollegium. Unter anderem befürchten Archäolog:innen, dass kritische Denkansätze ihre erlernten Praktiken als obsolet erscheinen lassen. Alle Grundsätze über den Haufen zu werfen, sei aber keineswegs sein Ziel, betont Schreiber. Ihm sei nur wichtig anzuerkennen, dass verschiedene Zugänge zu Fragestellungen bereichernd seien, und wünsche sich mehr Experimentierfreudigkeit.

Die jüngeren Entwicklungen stimmen ihn dennoch hoffnungsvoll, dass sein Fach zu aktuellen und politisch relevanten Fragen beitragen kann. Wenn es darum geht eine Zukunft zu entwerfen, die weniger zerstörerisch für Mensch und Umwelt ist, kann die Archäologie Inspiration liefern: „Das Schöne an der Archäologie ist, dass sie keine Utopien schreibt, sondern Beweise liefert für Gesellschaftsmodelle, die schonmal ganz anders funktioniert haben.“

Der Gastbeitrag basiert auf einem Interview, geführt von Elena Dratva mit Stefan Schreiber am 25. September 2024 in Mainz

CFP „Die Dinge einmal anders betrachten – Neuer Materialismus in der Archäologie“

Gemeinsame Tagung der AG Theorien in der Archäologie (TidA) mit dem Leibniz-Zentrum für Archäologie (LEIZA) in Mainz, dem Exzellenzcluster ROOTS und dem Marburger Centrum für Antike Welt (MCAW) vom 20.-21.03.2025

Sind die Dinge noch so, wie wir denken? Die Archäologie und verwandte Wissenschaften beschäftigen sich maßgeblich mit materieller Kultur, doch haben die Dinge neuerdings ein „Eigenleben“ gewonnen. Perspektiven aus der Forschung des Neuen Materialismus haben das humanistische Wissenschaftsverständnis auf den Kopf gestellt. Dinge sind mehr als nur von und für Menschen gefertigte Objekte, sondern Dingversammlungen, Assemblagen und materielle Formen des Zusammenlebens. In unserer Tagung gehen wir über ein Verständnis von Dinge als Bedeutungsträger, Symbole oder Medien hinaus und wollen neue Perspektiven in die wissenschaftliche Diskussion einbringen.

Ausgehend von den philosophischen Arbeiten von Gilles Deleuze, Felix Guattari und anderen gibt es verschiedene Ansätze zu einer posthumanistischen Bewertung von Dingen, die ein ganzes Spektrum neuer Perspektiven einbringen: von relationalen Verflechtungen, über multiple Ontologien bis hin zu Vorstellungen von vibrant matter. Der in diesem Zusammenhang ausgerufene Ontological Turn, der auf die potentiell sehr unterschiedlichen Weltanschauungen und Realitäten fokussiert, rückt die veränderte Rolle von Menschen, anderen Lebewesen, Dingen und Konzepten in den letzten Jahren in den Blick archäologischer Theoriebildung.

Die theoretischen Positionen des Neuen Materialismus haben u. E. gemeinsam, dass sie die Dingeauf andere Weise betrachten und ernstnehmen: 1) Dinge waren und sind aktiv an sozialen Prozessen beteiligt und keine passiven Objekte; 2) Dinge sind mehr als Materie und ihre Bedeutung; sie sind transformierende, lebhafte, eigensinnige Kräfte, deren Potentiale oft unverfügbar bleiben können; 3) Materie bildet keine stabilen und statischen Entitäten sondern befindet sich im ständigen Fluss. Diese drei Aspekte verweisen auf die Notwendigkeit, bestehende Vorstellungen dualistischer und dichotomischer Trennungen wie Natur /Kultur, Körper / Geist, materiell / sozial oder lebendig / tot theoretisch zu überarbeiten.

Für ein relationales und dynamisches Verständnis materieller Welten werden daher auch neue Konzepte benötigt, wie Kollektive, soziale Gefüge, Assemblagen / agencements, Netzwerke und Material Flows. Diese legen den Fokus auf die Veränderungen, Beziehungen und Emergenzen, anstatt auf essentialistische Eigenschaften und autonome Entitäten.

In der Archäologie konzentrieren sich diese Ansätze in der Regel auf die Ontologien vergangener Gesellschaften und die Art und Weise, wie sie ihre Welt(en) betrachteten und lebten. Dazu werden oft Querverbindungen zu verwandten theoretischen Ansätzen gezogen. Das betrifft z. B. den Neuen Animismus, Feministischen Materialismus, Neuen Vitalismus, Multispecies-Ansätze, Theorien der Inter- und Transkorporalität, oder Assemblage-Theorien. Mithilfe solcher Ansätze wird untersucht, wie Dinge in archäologisch untersuchbaren Zusammenhängen materialisiert, transformiert, platziert, behandelt, eingebettet oder bewahrt wurden.

Mit unserer Tagung wollen wir genau solche archäologischen Anknüpfungen thematisieren und die Dinge einmal anders betrachten:

  • Wie lässt sich unter der Forschungsperspektive des Neuen Materialismus das Zusammenleben von Menschen, Tieren und Dingen in der Vergangenheit neu verstehen?
  • Welche Auswirkungen hat der Neue Materialismus auf archäologisches Arbeiten wie Ausgraben und Kategorisieren, Restaurieren und Konservieren, Interpretieren und Quantifizieren, Konzeptualisieren und Theoretisieren sowie Ausstellen und Vermitteln?
  • Welche neuen Herausforderungen und Zugangsweisen, Fragestellungen und Perspektivenergeben sich aus der Perspektive des Neuen Materialismus?
  • Wie stellt sich Archäologie jenseits von Dualismen in einer relationalen Denkweise dar?

Wir akzeptieren Beiträge für die zweitägige Tagung, die sich z. B. mit folgenden Aspekten in Bezug zum Neuen Materialismus auseinandersetzen: posthumanistische Narrative, Assemblagen, archäologische Kategorien, Körperverflechtungen, Architektur, Kunst. Zugleich sind auch Beiträge zum Einfluss des Neuen Materialismus auf archäologische Aufzeichnungen, Ausgrabungen, und Merkmalsbildungen willkommen.

Vorschläge für Vorträge oder Poster können mit einer maximalen Anzahl von 200 Wörtern bis zum 15.12.2024 an newmaterialism@posteo.de gesendet werden.

Eine Publikation der Tagung ist geplant.

Keynote Speaker: Ben Jervis (University of Leicester, UK)

Organisation: Sarah Bockmeyer (EXC ROOTS, Kiel), Sabine Neumann (Marburger Centrum AntikeWelt, Marburg), Stefan Schreiber (LEIZA, Mainz

Empfohlene Literatur:

  • Barad, Karen. 2007. Meeting the Universe Halfway: Quantum Physics and the Entanglement of Matter and Meaning. Durham, London: Duke University Press.
  • Ben nett, Jane. 2020. Lebhafte Materie: Eine politische Ökologie der Dinge. Berlin: Matthes & Seitz.
  • Deleuze, Gilles and Felix Guattari. 1997. Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie. Berlin: Merve.
  • Haraway, Donna J. 2018. Unruhig bleiben: Die Verwandtschaft der Arten im Chthu/uzän. Frankfurt a. M., New York: Campus.
  • Harris, Oliver J. T. 2021. Assembling Post Worlds: Materials, Bodies and Architecture. Abington, New York: Routledge.
  • Hoppe, Katharina and Thomas Lemke. 2021. Neue Materialismen zur Einführung. Hamburg: Junius.
  • Jervis, Ben. 2018. Assemblage Thought and Archaeology. Abingt on, New York: Routledge.

Reflexionen über die Bildung von Kategorien in der Archäologie: Ein Rückblick auf die gemeinsame Session der AG TidA und AG Geschlechterforschung 2022

Ein Gastbeitrag von Jana Esther Fries, Hanna Jegge & Sophie-Marie Rotermund

Im Zeitraum vom 5. bis 6. April 2022 führten Jana Esther Fries, Hanna Jegge (AG Geschlechterforschung) und Sophie-Marie Rotermund (AG TidA) erfolgreich die gemeinsame Online-Tagung: „Kategorienbildung und dann? Komplexität, Widersprüchlichkeit und Vielfalt archäologisch begreifen“ durch. Ziel der Tagung war es, die theoretischen Grundlagen und Ergebnisse der deutschsprachigen Archäologie im Kontext von Geschlechterfragen zu beleuchten sowie einen breiteren Blick auf die Bildung von Kategorien in der Archäologie insgesamt zu werfen. Die Input-Vorträge und Diskussionen während der Veranstaltung konzentrierten sich auf zentrale Fragen, darunter die Rolle von (starren) Kategorien in der Archäologie, die Formierung von Kategorien in der Geschlechterforschung und die Möglichkeit, in der Archäologie ohne Kategorien zu forschen. Die Tagung bot nicht nur informative Vorträge und Diskussionen, sondern integrierte auch Arbeitsgruppen im bewährten World Café-Format.

Dabei wurden Fragen aufgeworfen, die während der gesamten Tagung weiterverhandelt wurden: Wie werden Kategorien (auch in der Archäologie) gebildet, genutzt und gedacht? Wie tief zieht sich binäres Kategorisieren durch das Fach? Ab welchem Punkt werden Kategorien problematisch und ggf. hinderlich? Welche methodischen Mittel stehen uns zur Verfügung, um mit den vermeintlichen Widersprüchlichkeiten, der Komplexität und eventuellen Vielfalt von Geschlechtern in archäologischer Auseinandersetzung umzugehen? Können wir ohne Kategorien forschen?

Die Auseinandersetzung mit der Bildung von Kategorien erstreckte sich über drei Themenblöcke:

Im ersten Block wurde die Nützlichkeit und Unvermeidbarkeit von Kategorien erörtert. Hierbei wurde betont, dass sorgfältig gewählte Kategorien das Potenzial haben, neue Erkenntnisse zu generieren, während unüberlegte oder rigide Kategorien den wissenschaftlichen Fortschritt behindern können. Archäologische Forschung ganz ohne Kategorien erschien uns schon rein aufgrund der behandelten Datenmengen schwierig.

Der zweite Block widmete sich der Frage, wie Kategorien das Denken einschränken können. Es wurde hervorgehoben, dass die Bildung von Kategorien einen bedeutenden Machtfaktor darstellt und die Grenzen von Kategorien in der Archäologie flexibler gestaltet werden müssen.

Im dritten Block stand die Suche nach einem verbesserten Umgang mit Kategorien im Fokus. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer diskutierten verschiedene Lösungsansätze, darunter eine kontinuierliche Evaluation und Weiterentwicklung bestehender Kategorien, eine verstärkte Betonung der Beziehungen zwischen den Kategorien und die Vermeidung von binären Denkmustern.

Die Resonanz auf die Tagung war äußerst positiv, und sie wurde als weitaus hilfreicher als herkömmliche Vortragsveranstaltungen wahrgenommen. Teilgenommen haben 35 Personen. Besonders wurde betont, dass die Arbeit an Kategorien eine fortlaufende und unabdingbare Aufgabe ist. Das Interesse der Teilnehmenden an einer Ausweitung der Diskussion über die Bildung von Kategorien auf andere Themenfelder signalisiert einen anhaltenden Bedarf an einem umfassenden Austausch zu diesem komplexen Thema.

Literatur:
JANA ESTHER FRIES, HANNA JEGGE und SOPHIE-MARIE ROTERMUND, Kategorienbildung und dann? Komplexität, Widersprüchlichkeit und Vielfalt archäologisch begreifen, Blickpunkt Archäologie 2/2023, 143–150.

Weitere Informationen wie Programm und Abstracts der Tagung sind hier zu finden.

CfP Workshop „Doing Gender in Practices of Doing History“, 2./3. März 2022, Leipzig

Doing Gender in Practices of Doing History: Engendered Performances of the Past

Since practices of doing history and doing gender are inextricably linked, the workshop aims to explore this nexus in more detail. How are notions of history and gender being co-produced in practices of doing history? How do perceptions of history and gender reinforce or challenge each other in action? 
And what kind of history performances can create situations in which gender is “undone” rendered neutral and irrelative, or in which expectations of binarity are subversively undermined?

Deadline: 15.12.2022!!!

CfP Workshop „Doing Gender in Practices of Doing History“, 2./3. März 2022, Leipzig weiterlesen

Programm „Kategorienbildung und dann? Komplexität, Widersprüchlichkeit und Vielfalt archäologisch begreifen“

Gemeinsame Session der AG Geschlechterforschung und der Theorien in der Archäologie auf der Verbandstagung des MOVA und WSVA in Jena 4.-7.04.2022

Organisiert durch: Hanna Jegge, Jana Esther Fries und Sophie-Marie Rotermund

Tag 1 Nachmittag

14.00 – 15.30 Uhr 2 Input Vorträge (á 20 min.)

  • Hanna Jegge • Begrüßung
  • Sophie Rotermund, Jana Esther Fries • Kategorienbildung und dann?
  • Claudia Maria Melisch • Prinzessin von Berlin-Britz

16.00-17.30 Uhr World Café:
Vom Nutzen und der Unvermeidlichkeit von Kategorien

Tag 2 Vormittag

8.30 – 10.00 Uhr 3 Input Vorträge (á 20 min.)

  • Michaela Helmbrecht • Komplexität, Widersprüchlichkeit und Vielfalt archäologisch begreifen – und sprachlich umsetzen. Gedanken einer Sprachfetischistin
  • Stefan Schreiber • Queere Geschlechter – relationale Subjekte? (Warum) Sind Geschlechter dual resilienter?
  • Eleonore Pape • Grenzen traditioneller und Potentiale revidierter Geschlechtsbestimmungsmethoden für die Interpretation von Gender anhand prähistorischer Bestattungen

10.30-12-30 Uhr World Café:
Wieso Kategorien unser Denken begrenzen

Tag 2 Nachmittag

14.00 – 15.30 Uhr 2 Input Vorträge (á 20 min.)

  • Daniela Nordholz • Identitäten (gender und mehr) im Spätpaläolithikum und Mesolithikum
  • Sonja Grimm, Daniel Gross • Göttinnen und Jäger – Genderdebatte und Stereotype in der Wildbeuter-Archäologie (digital)
  • Philipp Tollkühn • Männliche Hofbesitzer in der Bandkeramik?!

16.00 – 17.30 Uhr World Café:
Komplexität begreifen – aber wie? Für einen besseren Umgang mit Kategorien

Download des Programms und der Abstracts hier

Programm „Kategorienbildung und dann? Komplexität, Widersprüchlichkeit und Vielfalt archäologisch begreifen“ weiterlesen

Stellungnahme der AG Theorien in der Archäologie e.V. (TidA) zu durchgeführten, verhinderten & geplanten Kürzungen Kleiner Fächer im Universitätsbetrieb

04. August 2021

Gerade in den letzten Jahren nach der Weltwirtschaftskrise zeigte sich, dass die Schließungen und Nicht-Besetzungen von Professuren Kleiner Fächer leider kein Einzelfall sind. So wurde in Sachsen an der Universität Leipzig trotz weltweitem Protest die Professur für Klassische Archäologie eingespart und das gleichnamige Institut in eine Lehreinheit des Historischen Seminars umgewandelt. Zudem wurden erst jüngst die Pläne zur drohenden Schließung bzw. zum sukzessiven Abbau von Professuren, Abteilungen und Instituten in Halle diskutiert, welche ebenfalls von erheblichen Protesten seitens der Öffentlichkeit und unseren Fachvertreter*innen begleitet worden sind. Mit großer Sorge beobachten wir diese Entwicklungen und möchten uns an dieser Stelle daher nachdrücklich gegen die Kürzungen von altertumswissenschaftlichen sowie archäologischen Professuren und deren Institutionen in Deutschland aussprechen.

Die Professuren- und Standortzahlen der Kleinen Fächer sind im Zeitraum zwischen 1997 und 2020 stabil geblieben bzw. sogar gewachsen, wobei in den einzelnen Fächergruppen durchaus unterschiedliche Trends zu erkennen sind. Dies ergab die flächendeckende Datenerhebung der Mainzer Arbeitsstelle Kleine Fächer aus dem Jahre 2020, welche bundesweit 157 kartierte Kleine Fächer in die Analyse einbezogen hatte. Dabei sind in dieser Auflistung gerade neu entstandene Disziplinen, wie beispielsweise die Archäoinformatik (Köln), noch nicht inbegriffen.

Einen wichtigen Teil der Kleinen Fächer stellen die Altertumswissenschaften dar. Gerade sie bauen die so wichtige Brücken zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Solche Brücken tragen erst dazu bei, dass wir ein (kritisches) Bewusstsein unserer eigenen Position und unserer Verantwortung in der Welt schaffen und reflektierte sowie überlegte Handlungsoptionen und -orientierungen aus einer Langzeitperspektive her entwickeln können. Auf ein verdeutlichendes Exempel sei hier kurz hingewiesen, wenn die Archäologie beispielsweise ihre verantwortungsvolle Beratungsfunktion für die (internationale) Politik (Deutschlands) übernimmt.

Innerhalb Deutschlands tragen die altertumswissenschaftlichen Fächer mit ihren vielen Teildisziplinen, die sich durch unterschiedliches Quellenmaterial und ihr jeweiliges Herangehen an die Vergangenheit unterscheiden, zu einer erfolgreichen Positionierung und Entwicklung der Hochschul-, Forschungs- und Wissenschaftslandschaft bei. Die Diversität befördert geradezu einen vielschichtigen Diskurs über die Vergangenheit und damit auch Gegenwart und Zukunft.

Hinzu kommt eine regionale Wissenschaftsdiversität, welche die einzelnen Teildisziplinen positiv kennzeichnet: Die archäologischen Standorte in Deutschland bieten verschieden ausgerichtete Professuren und dementsprechend eine Vielzahl von Studiencurricula an. Nur durch die unterschiedlichen Sichtweisen und Perspektiven wird der Diskurs und die Wissensvielfalt gefördert, um so wiederum verschiedenartige Erkenntnisse synergetisch erzeugen zu können. Wir sind davon überzeugt, dass disziplinäre Pluralität zu einer höheren Akzeptanz von unterschiedlichen, jedoch nachvollziehbaren, -prüfbaren, konsistenten und hinterfragbaren Wegen zu Wissen und zu Erkenntnissen führt, was letztlich für uns auch eine Form von Wissenschaftsfreiheit bedeutet. Fundierter, kreativer, kritischer und wissenschaftlicher Streit und damit Austausch, Aushandlung, (Selbst-)Reflexion und Einschätzung sind nur möglich, wenn es eine Vielzahl von Stimmen und Meinungen gibt, die auch bewertbar und kontextualisierbar bleiben.

Durch den Abbau und die finanzielle Unterversorgung der Institute werden jedoch der bisher positiven Entwicklung wieder immense Einbußen abverlangt. Das ist umso bedauernswerter, da die altertumswissenschaftlichen Forschungen führungsweisend zu ausschlaggebenden Forschungsrichtungen innerhalb inter- und transdisziplinärer Forschungsverbünde beitragen, wie im Falle von Klimaforschungen oder globalgesellschaftlichen Themen (z. B. Rassismus, ethnisch-kulturelle Vielfalt, (Un)Gleichheit, Krisensituationen, Pandemien und Resilienz).

Eine Gesellschaft, die also nicht auf Diversität– speziell auf disziplinäre Diversität – setzt, welche v. a. die Kleinen Fächer einschließt und deren Mannigfaltigkeit fördert, ist folglich eine „amputierte“ Gesellschaft, die sich in Krisensituationen schlecht behaupten kann. Diversität wird als eine der Schlüsselqualitäten von resilienten Strukturen angesehen. Langfristig führt also der Abbau zu einer Marginalisierung und Abwertung des Wissenschaftsstandortes Deutschland vor allem auf dem internationalen Wissenschafts- und Forschungsplateau. Zudem wird durch die Kürzungen nicht nur die wissenschaftliche, sondern auch die personelle Diversität in Deutschland reduziert, die bisher als Vorteil und Stärke wahrgenommen zu einem sehr guten Abschneiden im internationalen Vergleich führte – z. B. bei der Einwerbung von EU Geldern.

Das Bundesministerium für Bildung und Forschung hat die Bedeutung der Kleinen Fächer erkannt und fördert seit Jahren den Erhalt und Ausbau mit beträchtlichen finanziellen Mitteln (siehe Käte Hamburger Kollegs oder die diversen Förderprogramme „Kleine Fächer – große Potenziale“). Dies ist auch dringend notwendig, denn gerade die Altertumswissenschaften haben eine große Stärke und internationale Sichtbarkeit mindestens seit dem 19. Jahrhundert erarbeitet, die mit dazu führten, dass Deutschland zu einem weltweit anerkannten Wissenschaftsstandort geworden ist. Nun handeln aber die Universitäten und einzelnen Bundesländer mit den Kürzungen konträr zur Linie des Bundesministeriums, was sehr bedauerlich ist und zu Spannungen innerhalb der deutschen Wissenschafts-, Hochschul- und Forschungslandschaft führt.

Befeuert durch weitere unglückliche Bestimmungen, wie beispielsweise das Wissenschaftszeitvertragsgesetz, führt diese Zuspitzung zu einer Abwanderung qualifizierter Wissenschaftler*innen aus Deutschland ins Ausland. Diese Tendenz muss baldmöglichst gestoppt werden, um einer Ausdünnung exzellenter Forschung in Deutschland entgegenzuwirken. Vielmehr besteht eine gesellschaftliche Notwendigkeit, reflektierende Kleine Fächer wie die Archäologie und altertumswissenschaftliche Fächer zu fördern und weiter auszubauen, anstatt zu kürzen!

Gez.
Vorstand und Beirat der AG Theorien in der Archäologie e.V. (TidA)

Zitiervorschlag: AG Theorien in der Archäologie (TidA), Stellungnahme der AG Theorien in der Archäologie e.V. (TidA) zu durchgeführten, verhinderten & geplanten Kürzungen Kleiner Fächer im Universitätsbetrieb. DOI: 10.5281/zenodo.5156004.

Stellungnahme als pdf zum Downloaden

Offener Brief des Vereins AG Theorien in der Archäologie (TidA) zum Thema #IchBinHanna

22. Juli 2021

An die Verbände und Vereine, die sich als archäologische Berufs- oder Interessen-vertretungen verstehen,

insbesondere den Deutschen Verband für Archäologie (DVA), den Deutschen Archäologen-Verband (DArV), die Deutsche Gesellschaft für Ur- und Frühgeschichte (DGUF) sowie das Chartered Institute for Archaeologists Deutschland (CifA D).


Seit dem 10. Juni 2021 machen unter dem Hashtag #IchbinHanna in einer beispiellosen Grassroots-Initiative tausende Wissenschaftler*innen ihrer Wut und Verzweiflung, aber auch ihrer Hoffnung Luft. Grund ist das unverhältnismäßige und in vielen Punkten kontraproduktive Wissenschaftszeitvertragsgesetz (WissZeitVG). Ausgelöst wurde diese öffentliche Empörung durch ein Video auf der Website des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF), in welchem die fiktive, namensgebende Doktorandin Hanna erklärt, weshalb sie das WissZeitVG für besonders gut hält, weil durch die wissenschaftliche Zirkulation das Universitätssystem nicht „verstopft“ und so eine gesteigerte „Innovation“ erreicht würde.

Das WissZeitVG und die damit zusammenhängende Befristungspraxis bei steigenden Studierenden- und Promovierendenzahlen stellen für das gesamte akademische System eine nicht tragbare Situation dar, die das Prekariat zum Standard erhebt. Bereits im Vorfeld von #IchBinHanna wurde lange über das WissZeitVG kontrovers diskutiert. So sprach sich die Vereinigung der Kanzlerinnen und Kanzler der Universitäten Deutschlands im September 2019 in der Bayreuther Erklärung zu befristeten Beschäftigungsverhältnissen mit wissenschaftlichem und künstlerischem Personal in Universitäten für das WissZeitVG und die sich dadurch verschärfende Prekarisierung aus. Auch hieran wurde intensiv Kritik geübt, z. B. durch die Aktion #95vsWissZeitVG (95 Thesen gegen das Wissenschaftszeitvertragsgesetz) im Herbst 2020.

Zahlreiche Archäolog*innen sind ebenfalls betroffen, solidarisieren sich und haben sich explizit zu Wort gemeldet. Die Beiträge reichen von Studierenden und (Post-) Doktorand*innen, dem sogenannten Nachwuchs und dem akademischen Mittelbau, Berufsaussteiger*innen bis hin zu einzelnen Professor*innen. Während sich Verbände anderer Disziplinen bereits positioniert und direkt an das BMBF bzw. die Bundesministerin gewandt haben (z. B. die Deutsche Gesellschaft für Amerikastudien [DGfA], der Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands e. V. [VHD] und die Deutsche Gesellschaft für Soziologie [DGS]), haben sich die archäologischen Berufs- sowie Interessenvereine und -verbände bislang nicht positioniert.

Wir appellieren daher an alle archäologischen Berufs- und Interessenvereine sowie -verbände, Stellung zu beziehen zu dieser auch für die archäologische Forschungslandschaft kurz- mittel-, und langfristig untragbaren Situation und Ihre Stimme in die Politik zu tragen.

Erwartungsvoll,

Ihre AG Theorien in der Archäologie (TidA)


Zitiervorschlag: AG Theorien in der Archäologie (TidA), Offener Brief der AG Theorien in der Archäologie (TidA) zum Thema #IchBinHanna. DOI: 10.5281/zenodo.5121345.

Offener Brief als pdf zum Downloaden

Lesetipps – die dritte Runde

Liebe Mitglieder der AG TidA,
hier die dritte Runde der TidA-Lesetipps, von März und April 2019. Da der Vorrat aufgebraucht ist, möchte ich euch wieder auffordern, Empfehlungen einzureichen! Bücher und Texte die euch geprägt haben, die ihr für wichtig haltet, Texte, die dringend mehr Aufmerksamkeit bräuchten oder andere, die man dringend kritisch diskutieren müsste – nur her damit!
Formalia:
– Titel des Texts und ggf. Link bei open access
– 3-5 Stichpunkte, die den Text charakterisieren (“kritische Auseiandersetzung mit dem Kulturbegriff der Frühmittelalterarchäologie”, etc.)
– 3 Schlagworte (“Klassiker”, “Interdisziplinarität”, “Grabungstechnik”, etc.)
– an folgende Mailadresse: Alexander.Veling@gmx.de
Frühlingshafte Grüße aus Berlin,
Alexander Veling
(Neuer) Vorsitzender der AG TidA

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Lesetipps Dezember bis Februar

Die zweite Runde der Lesetipps ist durch, wieder mit einem vielseitigen Programm von bis J. Butler bis Jacob-Friesen. Da der Vorrat aktuell aufgebraucht ist, möchten wir euch wieder auffordern, Lesetipps einzureichen – viele haben sich ja schon beteiligt.

Formalia:

– Titel des Texts und ggf. Link bei open access- 3-5 Stichpunkte, die den Text charakterisieren („kritische Auseiandersetzung mit dem Kulturbegriff der Frühmittelalterarchäologie“, etc.)
– 3 Schlagworte („Klassiker“, „Interdisziplinarität“, „Grabungstechnik“, etc.)
– an folgende Mailadresse: Alexander.Veling@gmx.de

Viel Spass beim Lesen, vielen Dank für die Lesetipps und eine schöne Frühlingswoche!