Archäologie und Geschichtswissenschaft – zur Zusammenarbeit zweier Disziplinen

Sektion der Arbeitsgemeinschaft ‚Theorie in der Archäologie‘ bei der Tagung des Nordwestdeutschen Verbandes für Altertumsforschung in Schleswig,

8.-11. Oktober 2007

von Karin Reichenbach

Im Rahmen der letzten Jahrestagung des Nordwestdeutschen Verbandes für Alter­tumsforschung, die vom 8. bis 11. Okto­ber 2007 in Schleswig stattfand, hatte die Arbeitsgemeinschaft „Theorie in der Archä­ologie“ am ersten Tagungstag zu einer Sek­tion eingeladen, die sich mit dem Thema „Archäologie und Geschichtswissenschaft – zur Zusammenarbeit zweier Disziplinen“ beschäftigte. Die Sektion bot ein dichtes Programm mit 15 Vorträgen, die eine ange­regte Diskussion versprachen. Abgesehen vom Einführungsreferat der AG-Sprecher, Stefan Burmeister und Nils Müller-Scheeßel, waren die folgenden Vorträge paarweise einzelnen Themenschwerpunkten zugeord­net. Nacheinander äußerten sich zumeist je ein Archäologe und ein Historiker zur Charakteristik archäologischer und histo­rischer Quellen, zu literarisch bzw. histori­ographisch überlieferten und archäologisch gesuchten Orten und Ereignissen (Troia und Varusschlacht), zur archäologischen und historischen Sicht auf bestimmte Aspekte früher Gesellschaften (Sozialstruktur und ethnische Identität), zum Verhältnis von Archäologie, Historie und Philologie in den Fächern Ägyptologie und Vorderasiatische Altertumskunde und abschließend zu Versu­chen, beiden hier behandelten Fächern „wieder eine gemeinsame Klammer zu geben“ (vgl. Rundbrief 6/1/2007).

Ausgangspunkt war die Frage, ob die Geschichtswissenschaft „eine interpretati­onsleitende Disziplin“ für die Archäologie sei, da letztere bei der Interpretation ihrer Quel­len auf Input von Nachbarwissenschaften und insbesondere von der Geschichtswis­senschaft angewiesen ist. Nur durch die (bewusste oder unbewusste) Übertragung von Begriffen und Erklärungsmodellen aus anderen Bereichen und Erfahrungsebenen, wie eben auch aus der Geschichtswissen­schaft und weiterer Nachbardisziplinen, gelangt die Archäologie über das Ausgra­ben und Kategorisieren ihrer Funde und Befunde hinaus zu einer kulturwissenschaft­lichen Deutung. In der archäologischen Praxis herrscht jedoch große Unsicherheit in der Durchführung interdisziplinärer Studien. So werden Erkenntnisse und Daten anderer Wissenschaften oft nur zur Illustration und vermeintlichen Absicherung der eigenen Aussage herangezogen. Nur eine enge Zusammenarbeit, so die Organisatoren der Sektion, führe zu einem besseren Verständ­nis der Arbeitsweise sowie einem sinnvollen Umgang mit den Ergebnissen der Nachbar­disziplin. Grundlage dafür ist eine angemes­sene und kritische Einschätzung der Poten­ziale und Grenzen der jeweiligen Quellen sowie Möglichkeitender Zusammenarbeit. Solches auszuloten war Ziel dieser Sektion.

 Archäologische und Historische Quel­len

 Zunächst stellte Manfred K. H. Eggert eine Systematik historischer Quellen vor, die auf den Modellen von Ernst Bernheim und Johann Gustav Droysen basierte und histo­rische Quellen entsprechend der Überliefe­rungsabsicht in Überreste und Traditionen einteilten (Droysen 1937, Bernheim 1908). Eggert unterschied jedoch noch weiter nach der Schriftlichkeit in schriftliche und nichtschriftliche Überreste sowie in schrift­liche und nichtschriftliche Traditionen. Sowohl nichtschriftliche Überreste als auch nichtschriftliche Traditionen (Denkmä­ler) ergäben dann die „paläohistorischen (urgeschichtlichen) Quellen“, also die sonst üblicherweise als „archäologische Quellen“ bezeichneten Vergangenheitszeugnisse. Aus dieser Gegenüberstellung heraus formu­lierte Eggert acht spezifische Unterschiede hinsichtlich Struktur und Aussagepotenzial nichtschriftlicher und schriftlicher Quellen.

Zur Illustration und Verdeutlichung die­ser Charakterisierung wählte Eggert im zweiten Teil des Vortrages das Beispiel des bekannten Childerichgrabes von Tournai, ein Fund, der nicht nur aus einer Epoche stammt, die durch schriftliche und archäolo­gische Zeugnisse erschlossen werden kann, sondern der in Form eines Siegelringes und Münzbeigaben Quellen liefert, die gleich­zeitig archäologischen und schriftlichen Charakter haben.

Diese seltene Verknüpfung eines heraus­ragenden Grabfundes mit einer in der schriftlichen Überlieferung fassbaren Per­sönlichkeit bietet zunächst für die Archäo­logie eine absolutchronologische Einord­nung des reichen Grabinventars und somit einen Fixpunkt für die Feinchronologie der Merowingerzeit. Für die Mediävistik, die der schriftlichen Überlieferung nur wenige Informationen über Childerich entnehmen kann, zeichnet der archäologische Fund ein anschaulicheres Bild dieser Person. Auf der anderen Seite scheint man durch die prunk­hafte Ausstattung des Grabes Childerich eine bedeutungsvollere Stellung beimessen zu wollen, als es die Schriftquellen vielleicht vermuten lassen würden.

Weitere Anknüpfungspunkte für kulturge­schichtliche Aussagen im Fall des Childe­richgrabes sah Eggert unter anderem durch die Bestimmung der Herkunft der im Grab gefundenen Objekte aus dem einheimisch-fränkischen Bereich oder aus anderen Gebie­ten (römisch/byzantinisch, osteuropäisch/reiternomadisch). Dadurch werden Bezie­hungen sichtbar, die kultureller, politischer oder wirtschaftlicher Art sein könnten. Das Erkenntnispotenzial der Archäologie liege nach Eggert somit vor allem darin, eine Vorstellung über die „kulturelle und sozi­ale Umwelt“, hier des begrabenen Childe­richs, zu vermitteln. Nach Eggert spiegeln Archäologie und Historie unterschiedliche Aspekte der Vergangenheit und sind meist ohne gegenseitigen Bezug, da erstere „die Anschauung des konkreten Einstigen“ und letztere „einen schriftlich fixierten Teil des Einstigen“ vermittelt. Somit scheint für ihn nicht die Suche nach Übereinstimmung, sondern Feststellung von Widersprüchen wichtig, um zu gegenseitigem Nachdenken anzuregen.

Als Schüler Johannes Frieds beschäftigte sich Daniel Föller in seinem Vortrag mit den durch die Arbeitsweise des menschlichen Gehirns bedingten Verformungen von Erin­nerungen und den Konsequenzen, die diese aus der Einbeziehung neurowissenschaft­licher Ergebnisse in die Geschichtswissen­schaft gewonnene Erkenntnis für die Arbeit mit Schriftquellen als Erinnerungszeugnis­sen par excellence hat. Anhand von Zeug­nissen über König Harald III. von Norwegen demonstrierte er die verschiedenen Typen (Erinnerung, Parallelerinnerung, Gegener­innerung und Kontrollzeugnis) von Erinne­rungszeugnissen und ging auf potentielle Verformungsfaktoren ein.

Ergibt sich aus Frieds Thesen und Föllers Vortrag in erster Linie die Notwendigkeit einer neuen Lesart der erzählenden Quellen bzw. die Einbeziehung gedächtniskritischer Analysen in die Quellenkritik, so werden dadurch auch neue Forschungsfelder auf­gezeigt, mit denen man sich dem Wahr­nehmen und Erinnern in der Vergangenheit nähern könnte. Folgt man der Auffassung, das menschliche Gehirn bestimme grund­legend die Herausbildung aller Kultur, wäre dementsprechend auch das Zustandekom­men materieller Kultur determiniert, so dass man hier auch nach einer ‚gedächtniskri­tischen’ Archäologie fragen könnte. Für die von den Veranstaltern angestrebte grund­legende Gegenüberstellung der Erkenntnis­potenziale und Grenzen nichtschriftlicher und schriftlicher Quellen hätte neben der bisweilen auch kritisch zu betrachtenden neuronalen Bedingtheit vielleicht noch auf weitere Determinanten schriftlicher Überlie­ferung eingegangen werden können.

„Ubi Troia fuit“

Mit dem nun folgenden Vortragspaar wurde das wohl berühmteste Beispiel aufgegrif­fen,

bei dem Überlieferung und Archäologie in spannungsreicher Weise zusammenfanden – Troia. Zunächst gab Martin Zimmermann einen Überblick über die Auseinanderset­zung mit der Frage des archäologischen Nachweises von Troia und der jeweils vor­gebrachten Argumente. Wie sehr die archä­ologische Suche nach dem Schauplatz der antiken Erzählung die Gemüter erhitzte, hatte der teils medienwirksam geführte Troia-Streit der letzten Jahre vor Augen geführt. Diese zwischen Ausgrabungs­leiter und Althistoriker geführte Debatte erscheint symptomatisch für die bereits das letzte Jahrhundert bestimmenden Diskussi­onen um die von Archäologen vollzogene und Historikern kritisierte Gleichsetzung der Ausgrabungsbefunde auf dem Hisar­lik-Hügel mit dem Troia der Homerischen Epen. Grundlegendes Problem war und ist die Diskrepanz, die sich aus der Datierung des Grabungsbefundes und der erst ca. 400 Jahre später anzusetzenden Entstehung der Ilias ergibt. Nach dieser Schilderung der Problemsituation warf Stefanie Samida mit ihrem forschungsgeschichtlich orientierten Beitrag einen noch genaueren Blick auf die Wurzeln und die Entwicklung des Ver­hältnisses von Geschichtswissenschaft und Archäologie in der Troia-Debatte. Um die Vorraussetzungen verständlich zu machen, charakterisierte sie zunächst Quellenbezug, methodischen Ansatz und Forschungsziel der beteiligten Fächer im 19. Jh. Bei der bis in die Antike zurückreichenden Suche nach dem ‚wirklichen’ Ort, an dem Troia gelegen hat, war der Hügel Hisarlik schon mehrfach ins Spiel gebracht worden, bis schließlich Heinrich Schliemann in den 1870er und 1880er Jahren dort Ausgrabungen unter­nahm um einen archäologischen Beweis zu erbringen. Als besonders problematisch stellten sich dabei Schliemanns unkritische Betrachtung des homerischen Heldene­pos als detailgenauen historiographischen Bericht und die unbeschwerte Übertragung homerischer Bezeichnungen auf die ergra­benen Befunde und Funde heraus. Auch die zeitgenössische Kritik von Presse und Fach­welt bezog sich auf das vorbehaltlose Aufein­anderbeziehen schriftlicher und materieller Quellen, zielte jedoch andererseits auch auf die eher prähistorisch-archäologisch anmu­tende Arbeitsweise Schliemanns, der unan­sehnlichen Kleinfunden mehr Beachtung schenkte als antiken Bau- und Kunstwerken. Samida machte allerdings auch deutlich, dass Schliemann vor allem als „Kind des Historismus“ ganz seiner Zeit entsprechend den Nachweis für ein Ereignis anstrebte und dabei im Spannungsfeld zwischen Philolo­gie, Historie, Klassischer Archäologie und Prähistorie frühes interdisziplinäres Arbeiten verkörperte.

Varusschlacht

Mit einem weiteren Fall vermeintlich geglückter Zusammenfügung von Schrift­quellen und Fundmaterial beschäftigten sich die Beiträge von Reinhard Wolters und Nils Müller-Scheeßel.

Nachdem für die Lokalisierung der Varus­schlacht in der Vergangenheit verschiedenste Vorschläge erbracht wurden, mehrten sich seit Ende der 1980er Jahre entsprechende archäologische Funde in der Region Kalkrie­se. Die ausführliche Schilderung von Verlauf und Örtlichkeit insbesondere bei Tacitus trifft hier auf gute Fundbedingungen, die in aller Deutlichkeit Überreste einer Schlacht augusteischer oder frühtiberischer Zeit repräsentieren, so dass vieles dafür spricht, hier den Ort der berühmten Schlacht anzu­nehmen.

Reinhard Wolters wies zunächst auf die Probleme hin, die auch mit dieser Lokali­sierung verbunden sind und hinterfragte die Aussagemöglichkeiten der Schriftquel­len bezüglich des Ortes und Verlaufs der Schlacht. Besonders die topographische Beschreibung in den Schriftquellen steht im Widerspruch zur tatsächlichen Situation in Kalkriese. Akzeptiert man aufgrund der archäologischen Befunde Kalkriese als den Ort der Schlacht, müsste man die überlie­ferten Beschreibungen als nur ungenaue oder topische Schilderung anders lesen. Glaubt man dagegen an die Zuverlässigkeit der Texte, kann Kalkriese nicht der Ort der Varussschlacht sein.Daran anschließend warf Nils Müller-Scheeßel einen kritischen Blick auf die archäologischen Befunde aus Kal­kriese und ihre mit den Kampfhandlungen verbundene Interpretation. Bei genauerem Hinsehen lassen diese nämlich auch andere Deutungen zu und müssen nicht zwingend mit der Varusschlacht in Verbindung stehen. Für Müller-Scheeßel erschien es „historisch gesehen“ auch nicht von entscheidender Bedeutung, zu wissen, ob Kalkriese der Ort der Varusschlacht war oder nicht. Auf methodischer Ebene sei es dagegen durch­aus weiterführend, zu wissen, welche der beiden in Frage kommenden Schlachten sich in Kalkriese archäologisch niederge­schlagen hat. Für die Archäologie ließe sich durch die Zuordnung der Fundstreuung zu einem bestimmten Schlachttyp etwas über den Niederschlag von Kampfhandlungen im archäologischen Befund aussagen. Weiter­hin wären mit der damit verbundenen abso­lutchronologischen Einordnung auch neue Erkenntnisse hinsichtlich der Bewertung des Münzspiegels möglich. Für die Geschichts­wissenschaft würden sich aus dem Abgleich von überlieferter Beschreibung des Gesche­hens mit den örtlichen Gegebenheiten, wie bereits von Wolters angesprochen, metho­dische Konsequenzen für den Umgang mit den Texten ergeben.

An Troia und Kalkriese hat sich (wieder ein­mal) gezeigt, wie schwer es ist, im archäolo­gischen Befund nach einem schriftlich über­lieferten Ereignis zu suchen, wie groß und lang anhaltend demgegenüber jedoch die Faszination an solchen Fragestellungen ist.

Sozialstrukturen

Leider musste der Vortrag Stefanie Dicks, die sich diesem Thema aus geschichtswissen­schaftlicher Sicht nähern wollte entfallen. So blieb es Stefan Burmeister vorbehalten, dem von der Geschichtswissenschaft erar­beiteten Konzept die Aussagemöglichkeiten der archäologischen Befunde zur sozialen Strukturierung germanischer Gesellschaften gegenüberzustellen. Wiederholte Versuche, die bei Tacitus beschriebenen genauen rechtlichen Abstufungen in Form eines drei- bzw. fünfgliedrigen Ständewesens im archäologischen Befund nachzuweisen gelingen nicht, wie das angeführte Beispiel aus Häven zeigte, wo anthropologische Untersuchungen am Skelettmaterial die aufgrund der Grabausstattung vorgenom­mene Einteilung in Vornehme, Freie und einen Knecht in Frage stellten. Zwar kann das überlieferte Ständemodell bzw. recht­liche Qualifikationen von Bestatteten gene­rell durch die Archäologie nicht erschlossen werden, doch werden gerade für deutliche Unterschiede in Grabausstattung und –her­richtung grundsätzliche Aussagemöglich­keiten hinsichtlich der sozialen Differenzie­rung vor- und frühgeschichtlicher Gesell­schaften angenommen. Dies verdeutlichte Burmeister anhand der sog. Fürstengräber der älteren und jüngeren römischen Kaiser­zeit. Anhand von letzteren, den Gräbern der Haßleben-Leuna-Gruppe, umriss Burmeister das Bild einer Oberschicht, deren Entste­hung als eine kleinräumige und kurzfristige Erscheinung einer spezifischen historischen Situation geschuldet sein müsse und somit weder zentralistisch geführte Großverbände noch generell dynastische Herrschaftsfol­gen widerspiegele. Damit verwies er auch auf Grenzen und Widersprüche gegenüber dem geschichtswissenschaftlichen Aussage­potenzial, die als fehlende Passstellen viel Raum für weiteres Nachdenken lassen.

Ethnische Identität

Im nun anschließenden Themenkomplex widmeten sich Roland Steinacher und Seba­stian Brather jenen Quellenbefunden, die oft als Hinweis auf ethnische Identität gedeutet wurden. Aus der schriftlichen Überlieferung sind dies vor allem ethnische Bezeichnungen oder Gentilnamen, deren Bedeutung und Bedeutungskontinuität schwer zu fassen sind. Roland Steinacher verdeutlichte hier­zu, dass mit der in Berichten griechischer und römischer Ethno- und Historiographen überlieferten antiken Wahrnehmung von am Rande des Imperiums agierenden gentes bzw. eθνη keine unmittelbaren Aussagen über die soziale Realität oder die Bedeu­tung ethnischer Identität für diese Grup­pierungen verbunden sind. Vielmehr wurde in solchen Texten diese Welt unter Ver­wendung tradierter Topoi nach ethnischen Kategorien beschrieben und geordnet. In Wechselwirkung damit entstanden origines gentis, Herkunftsgeschichten, die den gentes einen altehrwürdigen Ursprung gaben und dadurch gemeinsame Herkunftsvorstel­lungen verfestigten und einen Anschein von Ebenbürtigkeit gegenüber der traditions­reichen römischen Aristokratie erbrachten. Ethnizität und Gentilität erscheinen damit als Kategorien der antiken Beobachter zur Erfassung der Verhältnisse an der Peripherie des Imperiums, Kategorien, die zur Verstän­digung und Auseinandersetzung notwendig waren und in der Folge den auf Reichsgebiet entstehenden regna als Grundlagen für die Ausbildung politischer Herrschaft dienten.

Mit der Frage nach einem möglichen Zusammenhang von archäologischen Kul­turen und ethnischen Identitäten beschäf­tigte sich anschließend Sebastian Brather. Er verdeutlichte dabei zunächst, dass die Definition archäologischer Kulturen nicht nur durch die Überlieferungs- und Entde­ckungssituation determiniert wird, sondern insbesondere durch die Auswahl der defi­nierenden Merkmale durch den Wissen­schaftler selbst. Archäologische Kulturen stellen somit wissenschaftliche Klassifikati­onen dar, die (typologische) Ähnlichkeiten und Unterschiede sowie die räumlichen und zeitlichen Bezüge einzelner Merkmale der überlieferten materiellen Kultur beschrei­ben. Das Zustandekommen solcher Zusam­menhänge und somit die Interpretation archäologischer Kulturen und Formenkreise war in der traditionellen Forschung oft mit der Vorstellung von abgegrenzten, in sich homogenen Gesellschaften verknüpft. Für Epochen mit schriftlicher Überlieferung schien es dann nahe liegend, diese mit den in den Quellen als ethnische Gruppen beschriebenen Verbänden in Verbindung zu bringen. Ethnische Gruppen, so betont Brat­her, sind im Gegensatz zu archäologischen Kulturen, die vor allem größere Kommuni­kationsräume darstellen, regional begrenzt. Zwar können Identitäten, und somit auch ethnisches Selbstverständnis, durchaus mit bestimmten Zeichen ausgedrückt werden, aber es erscheint nahezu aussichtslos, nach diesen Zeichen im archäologischen Material zu fragen, da diese situativ, subjektiv und flexibel angewendet werden, es sich somit um ausgewählte Symbole und nicht ganze Merkmalspakete handelt. Die Schriftquellen geben hierzu keine verlässlichen Hinweise, konstruieren stattdessen, wie von Wolters zuvor beschrieben, in ähnlicher Weise Kate­gorien wie die archäologische Forschung selbst.

Texte und Objekte in regionalen Alter­tumswissenschaften

Wie sich das Verhältnis von Geschichtswis­senschaft und Archäologie in Fächern dar­stellt, die traditionell beides vereinen, sollte der folgende Ausflug in die Ägyptologie und in die Vorderasiatische Altertumskunde zei­gen.

Zunächst ging Martin Fitzenreiter davon aus, dass in Ägypten „alles ganz anders“ sei und sich das hier diskutierte Problem gar nicht stellt, weil Funde und Texte in Ägypten oft nicht voneinander zu trennen sind. Mit genauerem Blick präsentierte er jedoch die Ägyptologie zwar als eine regionale Alter­tumswissenschaft, die sowohl philologisch-textorientiert als auch archäologisch-kultur­wissenschaftlich arbeite, aber sich durch ihre Entstehungsgeschichte aus der Entzifferung der Hieroglyphen einerseits und die Fokus­sierung auf die Hochkultur andererseits doch stärker an den Texten als an Objekten und Befunden orientiert. Somit dominiert das philologisch-ereignisgeschichtliche Interes­se weitgehend, wird jedoch bisweilen mit eher archäologisch-strukturgeschichtlichen Ansätzen konfrontiert.

Nach Reinhard Bernbeck war und ist die vorderasiatische Archäologie auf bedeu­tende Bauwerke und exzeptionelle Kunst­werke fokussiert sowie auf die Entdeckung biblisch oder bei Herodot überlieferter berühmter Metropolen. Auch hier standen seit dem 19. Jh. die Textquellen im Zen­trum des Interesses, mit der Entwicklung der vorderasiatischen Archäologie zu einer akademischen Disziplin rückte dann die kunstgeschichtliche Orientierung stärker in den Vordergrund, die sich aber dennoch nur schwer unabhängig von der Philologie behaupten kann. Daraus ergaben sich auch hier die bekannten methodischen Probleme, Stilrichtungen als ethnisch oder dynastisch determinierte Merkmale aufzufassen und sie anhand von schriftlich überlieferten Epo­chen chronologisch voneinander abzugren­zen. Mit Blick auf den in der Archäologie noch wenig beachteten narrative turn der Geschichtswissenschaften, plädierte Bern­beck abschließend dafür, stärker zu berück­sichtigen, wie sehr Auswertungen auch archäologischer Quellen durch den Stand­punkt und die Verfasstheit des Betrachters sowie durch die Form der Ergebnispräsen­tation determiniert werden und schlug vor, die autoritäre, omniszientistische Erzählform wissenschaftlicher Texte aufzubrechen und Darstellungsformen zu verwenden, die ver­schiedene Blickwinkel erlauben.

Archäologie und Geschichtswissen­schaft in gemeinsamer Perspektive

Die abschließenden beiden Beiträge stell­ten Wege vor, Geschichtswissenschaft und Archäologie sinnvoll zu verbinden, und sie in einem, beide umfassenden, theoretischen Rahmen zu integrieren.

Mit dem „ganzen Mensch“ im Blickpunkt stellte Ulf Ickerodt die Potenziale einer historischen Anthropologie dar, die als transdisziplinärer Ansatz, die Gesamtheit des menschlichen Seins in ihrer Veränder­barkeit untersucht. Eine Vielzahl von Wis­senschaften befasst sich ohnehin mit dem Untersuchungsgegenstand „der ganze Mensch“, es fehlt jedoch an einem einheit­lichen Interesse und an Strukturen, die ver­schiedenen Einzelwissenschaften in einen gemeinsamen Dialog zu bringen. Durch eine nicht nur gemeinsame, sondern universale Perspektive könnten die unterschiedlichen Wissenschaften und Ansätze reintegriert und somit wissenschaftlichen Differenzie­rungsprozessen entgegengewirkt werden. Nach Ickerodt besteht bislang allerdings noch kein weitreichendes Interesse an solch einem holistischen Gesamtkonzept, wie es die historische Anthropologie darstellt.

Demgegenüber zielte Ulrich Veits Beitrag in anderer Weise darauf, die dieser Sektion zugrunde gelegte Gegenüberstellung von Archäologie und Geschichtswissenschaft aufzulösen. Mit Verweis auf Heinz Heckhau­sen (1987) sind beides Fächer einer Disziplin, obwohl sie sich zwar mit unterschiedlichen Gegenstandsaspekten befassen, sich aber, zusammen mit anderen historisch orien­tierten Kulturwissenschaften, auf einem selben theoretischen Integrationsniveau bewegen, das sich ergibt aus den über die einzelnen Fachwissenschaften hinausge­hend angewandten Begriffen, Modellen und gemeinsam anerkannten Verfahrens­weisen zur Erkenntnisgewinnung. Bei der in dieser Sektion zur Diskussion gestellten Zusammenarbeit zwischen Archäologie und Geschichtswissenschaft würde es danach auch nicht um eine Gegenüberstellung unterschiedlicher Wissenschaftskonzepte gehen, sondern um eine Auseinanderset­zung mit der Bewertungen der Aussagekraft der verfügbaren Quellen und der Anwend­barkeit der daraus abgeleiteten Methoden. Ob sich die jeweiligen Quellenpotenziale und methodischen Kompetenzen sinnvoll zusammenführen lassen, hinge dann viel­leicht ‚nur’ davon ab, welche Fragen man an die Vergangenheit stellt.

Mit den letzten beiden Vorträgen waren Möglichkeiten aufgezeigt worden, den beiden Fächern einen theoretischen Rah­men zu geben. Dadurch ließen sich die vielen Aspekte, die in den Vorträgen und Diskussionen angesprochen wurden in eine Struktur bringen, die den Blick auf die ein­leitende Fragestellung schärfte. Ob und wie sich aus Schriftquellen gewonnene Informa­tionen mit solchen aus Sachquellen gewon­nenen verknüpfen lassen, konnte aber nicht abschließend geklärt werden. Hierzu muss vielleicht noch weiter und genauer nach­gefragt werden, in welchen Bereichen und auf welcher methodischen Grundlage aus der Analyse von Schriftquellen gewonnene Erkenntnisse bei der Deutung materieller Quellen genutzt werden können und umge­kehrt.

Die Beispiele für archäologisch-historische Zusammenarbeit in dieser Sektion haben besonders problematische Fragestellungen behandelt, die deutlich machen, dass ereignisgeschichtliche Vergangenheitsbe­trachtungen selten zu einer konstruktiven Zusammenarbeit führen. Dennoch ist die Faszination noch immer groß, Fundorte und bestattete Personen(gruppen) bei einem – schriftlich überlieferten – Namen nennen zu wollen, wie es die Diskussionen um Troia, Kalkriese und die ethnische Deu­tung zeigten. Vielleicht hat diese Faszination dazu geführt, dass die Archäologie sich noch zu wenig an eher strukturgeschichtlich ausgerichteten Strömungen der Geschichts­wissenschaft orientiert.

 

Karin Reichenbach
Universität Leipzig
Professur für Ur- und Frühgeschichte
Ritterstr. 14, 04109 Leipzig
 

1   Der hier abgedruckte Bericht ist die Kurzfassung einer längeren Version mit ausführlicher Diskussion der Beiträge und einem detailliertem Fazit, die für eine Publikation im Archäologischen Nachrichten­blatt vorgesehen ist.

Literatur

 

Bernheim 1908: E. Bernheim, Lehrbuch der historischen Methode und der Geschichtsphiloso­phie. 2 Bde. (Leipzig 6 1908).

Droysen 1937: J. G. Droysen, Historik. Vorlesung über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte. Hg. v. R. Hübner (Berlin-München 1937).

Heckhausen 1987: H. Heckhausen, „Interdisziplinäre Forschung“ zwischen Intra-, Multi- und Chimären-Disziplinarität. In: J. Kocka (Hrsg.), Interdisziplinarität. (Frankfurt/Main 1987) 129-145.